BAND: 2
HEFT: 1
1935
ZilTSCHRirT FÜR
POLITISCHE PSVCHOLOCIE
UND SEXUALÖKONPMIE
HERAUSGEBER: ERHST PARELL
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
INHALTS
An unsere Freunde und Leser — ■
Oberblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie-
Von der bürgerlichen Sexualreform zur rev. Sexualpolifik- —
Zur massenpsychoiogischen Wirkung des KriegsKIms
Die Funktion der .objektiven Wertwelt"
Kleinbürgerliche^ Individualismus ■
Ein Gespräch mit einem Frisörgehilfen-
Lasst Blusen sprechen-
Das neue Homosexuellen-Gesetz Sowjet-Russlands-
Magnus Hirschfeld in memoriam-
Sex-Pol-Bewegung -
Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der IPV-
Ein Abtreibungsprozess in Dänemark— —
Sexpol-Schulung
Geschichte der deutschen Sex-Pol-Bewegung (II.)-
Besprechungen — L
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Zeltschriff für politische Psychologie und Sexualökonomie
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Libreria HORIZONTE, Barcelona, Calle Cortes 583
ZEITSCHRIFT FÜR
POLITISCHE PSYCHOLOGIE
UND SEXUALÖKONOMIE
BAND: II
HEFT: 1
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An unsere Freunde und Leser!
Die vorliegende Nummer unserer Zeitschrift erscheint mit unver-
hältnismässiger Verzögerung. Der Grund für diese Unterbrechung
ist nicht so sehr in den in solchen Fällen beliebten technischen
Schwierigkeiten zu suchen (die freilich auch nicht gering waren),
sondern darin, dass die Sexpol in der letzten Zeit durch eine Reihe
ernster Auseinandersetzungen hindurchmusste.
Wer aus den bisherigen Veröffentlichungen der Sexpol einen Ein-
druck von der Wucht und Bedeutung der Probleme gewonnen hat,
mit denen wir zu ringen haben, der wird einsehen, dass wir uns diese
Auseinandersetzungen und das damit verbundene Stillschweigen ge-
statten mussten und — denjenigen unserer Leser, auf die es uns an-
kommt, zumuten durften.
Im Zuge der Diskussionen, die in unseren Reihen in der letzten
Zeit geführt wurden, tauchte immer wieder das Verlangen auf, an-
stelle oder in Ergänzung unserer bisherigen Zeitschrift eine weitere
»populäre«. Zeitschrift herauszubringen, um die Auffassungen und
Aussagen der Sexpol zu popularisieren.
Wir sind zu dem Entschluss gekommen, auf eine solche Publika-
tion zu verzichten, zugleich aber sehr ernsthaft auf das zu hören,
was diese Stimmen eigentlich meinten, ohne es genügend klar aus-
zusprechen.
Wohl ist es bisher der Sexpol gelungen, wissenschaftlich ein-
wandfreie Formulierungen in populärer Form auf dem Gebiete der
eigentlichen Sexualpolitik zu finden und sich durchaus verständ-
lich zu machen. Dagegen müssen wir rückhaltlos zugeben, dass die
Anwendung der wissenschaftlichen Strukturforschung auf dem Ge-
biete der entsexualisierten seelischen Reaktionen auf das reale Leben
der Gegenwart bisher noch nicht gelungen ist und dass offenbar der
korrekte Zugang dazu noch nicht gefunden wurde. Es gibt noch kei-
nen unter uns, der in sich die Fähigkeit vereinte, hier populäre Form
mit exakt wissenschaftlichem Inhalt zu erfüllen.
Wir sehen ein, dass dieses Brückenschlagen eine Arbeit war, die
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An unsere Freunde
wir dem Leser zumuteten — r und nicht zumuten durften, dass wir
selbst, erfasst von der Fülle der Problematik, die sich bei jedem
Schritt weiter vor uns auftat, oft im Einzelproblem stecken blieben
und es unterliessen, immer und immer wieder die grossen Linien auf-
zuzeigen, auf denen alle Forschung der Sexpol beruht. Jene Linien,
die nicht von der Sexpol künstlich gezogen worden sind, um ebenso
künstliche Hypothesen hineinzukonstruieren, sondern die das Leben
selbst zieht, und deren Ausdeutung — nicht mehr und freilich auch
nicht weniger — der Sinn unserer Arbeit ist.
i Diese Zeitschrift dient — um es mit allem Nachdruck noch ein
' übriges Mal zu sagen — der Arbeiterbewegung, also jener Bewegung
. im weitesten Sinne, die nichts Geringeres unternehmen will, als an
I die Stelle der bestehenden Gesellschaftsordnung die neue Ordnung
des Sozialismus zu setzen.
Es ist verständlich, dass die Mehrzahl der Anhänger aller der
tausend Variationen, die es innerhalb der Arbeiterbewegung über
Weg, Methode und Zielgestaltung gibt, in dieser vorstehenden Erklä-
rung ungefähr den Gipfel der Verschwommenheit erblicken mögen,
der überhaupt zu erreichen ist.
Solche Kritiker verharren in dem gleichen Fehler, den wir selbst
begangen haben, aber erkannten und nunmehr zu beseitigen versu-
chen.
Sie sind von der Sonderproblematik der besonderen Situation, in
der sie sich befinden, erdrückt worden und machen ihre Sonderant-
wort, die sie gefunden haben, zum allgemeingültigen Masstab des
gesellschaftlichen Geschehens. Dass in einem solchen Verhalten sich
letzten Endes sehr tiefliegende persönlich-menschliche (also »unsach-
liche«) Motive ausdrücken — dies ans Licht zu bringen, ist eine
der Aufgaben der Sexpol, aber nicht dieses Aufsatzes.
Wir sehen es als eine unserer vornehmsten Aufgaben an, auf eine
Tatsache hinzuweisen, die der Arbeiterbewegung im Kampfe des Ta-
ges aus dem Blickfeld geraten ist und deren Nichtberücksichtigung
nach unserer festen Überzeugung eine der Ursachen ist, warum die
Arbeiterbewegung nicht längst ihr Ziel erreicht hat, sondern im Ge-
genteil in der Gegenwart durch eine Epoche schwerer Bedrohung,
Schwächung und ernster Niederlagen hindurchmuss.
Dies ist die Einsicht, dass unsere moderne Gesellschaft mit ihrem
ausgeprägten Klassencharakter nicht etwas ist, das gewissermassen
aus dem leeren Raum in den Bereich der Geschichte geraten ist, son-
dern dass sie — in allen ihren Erscheinungs- und Wandlungsformen
— lediglich die äusserste Spitze einer ungeheuren Pyramide, der
derzeitige Schlusspunkt einer jahrtausendelangen Entwicklung ist,
die, in welchen Formen es auch immer sei, gekennzeichnet ist durch
geistige, körperliche und ökonomische Unterdrückung der Mehrheit
der Menschen durch eine herrschende Oberschicht, nicht zuletzt und
vielleicht entscheidend in der Form der sexuellen Unterdrückung.
2
An unsere Freunde
Und diese Einsicht, verbunden mit einer leidenschaftslosen Be-
trachtung der Geschichte, nicht zum wenigsten der Geschichte der
Arbeiterbewegung, führt zu der weiteren Erkenntnis, dass das Be-
wusstsein der Menschen nicht Schritt gehalten hat mit dem Ablauf
der Entwicklung, dass Jahrtausende alte Traditionen, Bindungen,
Autoritäten in ihrem Bewusstsein verwurzelt sind, die nicht aufzu-
lösen sind allein durch eine noch so überzeugende und objektiv rich-
tige Beweisführung, die sich etwa nur auf die ökonomischen Tatsa-
chen unserer Gegenwart stützt. Sehen wir nicht am Beispiel Deutsch-
lands und aller der anderen in aller Welt blühenden Faschismen,
dass das rasende Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung, das ob-
jektiv längst zur sozialen Revolution hätte führen müssen, zunächst
einmal Panik im Bewusstsein der Massen hervorrief , das sich seiner
»Ungleichzeitigkeit« dumpf bewusst wurde und den unwiederbring-
lichen Verlust aller eingewurzelten und gewohnten Masstäbe fürchten
musste? Und aus der Furcht vor dem sich rasend nähernden Kom-
menden und Ungewissen, im unklaren Gefühl, die gewohnte Grundlage
aufgeben zu müssen, griff man mit dem Instinkt des Ertrinkenden
nach den Fetischen, die sich in der Maske der angeblich ewigen Werte
anboten — der Faschismus fand bereiten Boden.
Diese Tatbestände richtig zu sehen, sie in ihre tiefsten Wurzeln
zu verfolgen, ihre Mechanismen aufzudecken, das ist eine der Vor-
aussetzungen, die die Führung der Arbeiterbewegung besser als
bisher befähigen können, eine wahrhaft revolutionäre und proletarische
Politik zu machen. Und diese Voraussetzung schaffen zu helfen, sehen
wir als die Aufgabe der Sexpol an. Wir sowohl wie unsere Leser
müssen sich dabei klar sein, dass eine solche Arbeit sich nicht durch
revolutionär klingende Fanfaren leisten lässt, sondern dass hier
gründliche wissenschaftliche Arbeit getan werden muss, die auch
vom Leser Mitarbeit verlangt und die Bereitschaft, gelegentlich auch
durch scheinbar trockene Materie sich hindurchzuarbeiten.
Wenn wir uns nicht weniger vornehmen, als in den Menschen,
die uns hören, ein neues Bewusstsein, ein wahrhaftes »Klassenbe-
wusstsein« nicht so sehr zu schaffen als auszulösen und von seinen
inneren Widerständen zu befreien, so sind wir uns klar darüber^
dass diese Widerstände und damit die Gegnerschaft zu unseren Mei-
nungen besonders stark bei solchen Menschen sein wird, in denen
und in deren Organisationen dieselben Faktoren wirksam sind wie
in der heutigen Gesellschaft als Ganzes, also Tradition, autoritäre
Bindung und dergleichen mehr.
Es kann uns ja auch nicht genügen, wenn man da und dort be-
reit ist, unsere Fragestellung und vielleicht noch die allgemeine Ant-
wort zu akzeptieren, gleichzeitig aber am Kern der Sache vorbeigeht^
dass nämlich Ideologie und Strukturbildung ein in seinem Wesen
sexualökonomischer Prozess und daher eben die Sexualpolitik die
einzig korrekte Praxis ist, die daraus hervorgeht. Diesem Kern sich
An unsere Freunde
gegenüberzustellen und die entsprechenden Folgerungen zu ziehen,
das erscheint als eigene Bedrohung und als ein Wagnis, dem man
sich lieber entzieht.
So ist unsere Arbeit nicht (und kann nicht sein) Massenarbeit,
wie es etliche unserer Freunde erträumen, sondern sie kann besten-
falls aus den uns jeweils erreichbaren Massen diejenigen anrufen
und mit ihnen sprechen, die geeignet sind und sein werden, die Avant-
garde der kommenden Revolution zu bilden. Ohne sie wird die Re-
volution nicht oder — was schlimmer ist — erfolglos sein.
i
Die Redaktion der Zeitschrift.
Überblick über das Forschungsgebief der Sexualökonomie
Überblick über das Forschungsgebiet
der Sexualökonomie
Von Wilhelm Reich
Über das Wesen der Sexualökonomie herrschen so viele falsche
Anschauungen, dass eine kurze Zusammenfassung derjenigen Ele-
mente meiner Theorie, die mit der Wirtschaftstheorie des Marxismus
und der Psychoanalyse von heute sachlich nichts gemeinsam haben,
schon jetzt notwendig ist.
Meine wissenschaftlichen Anschauungen sind bisher als eine
»Synthese von Marx und Freud« bekannt geworden, ohne es in Wirk-
lichkeit zu sein oder derartiges zu beanspruchen. Ich gestehe, nicht
zu wissen, wie diesem ganz groben Missverständnis zu begegnen ist.
Alle meine Versuche, die korrekte Anschauung von meiner Arbeit
durchzusetzen, misslangen bisher. Man will aus einem mir noch un-
verständlichen Grunde daran festhalten, dass der Marxismus einer
Ergänzung durch Freud bedürfe, dass Marx gut ist, Freud ebenso,
Marx und Freud daher eine ganz besonders glückliche Mischung er-
geben. Die Verhältnisse der beiden Disziplinen zueinander und zu
meiner Theorie liegen in Wirklichkeit ganz anders, viel komplizierter,
aber auch korrekter, als die vulgäre Meinung es ansieht. Ich möchte
also ausdrücklich betonen, dass die Sexualökonomie kein Additions-
produkt aus Marxismus und Psychoanalyse ist, und muss eine der-
artige Anschauung gerade als bestes Kennzeichen dafür ansprechen,
dass die Sexualökonomie gründlich missverstanden wurde, ebenso wie
der Marxismus und die Psychoanalyse. Der Kern der sexualökonomi-
schen Theorie, um den sich alle weiteren Anschauungen gruppieren,
indem sie aus ihm hervorgehen, ist meine Orgasmuslehre. Dieses
Tatsachengebiet liegt weder im Bereiche der marxistischen Wirt-
schaftslehre noch in dem der analytischen Psychologie, sondern be-
trifft eine biologisch-physiologische Erscheinung, die alles Lebendige
durchzieht. Das genannte Missverständnis beruht offenkundig darin,
dass ich die Orgasmustheorie zunächst innerhalb des Problemkreises
der seelischen Erkrankungen entwickelte und viele Jahre hindurch
Wilhelm Reich
mich auf dieses Gebiet beschränken rausste. Die offiziellen Vertreter
der psychoanalytischen Schule lehnten jedoch die Bedeutung der Or-
gasmuslehre für die Psychologie der seelischen Erkrankungen ab;
ich musste schon im Vorwort zu meinem Buche »Die Funktion des
Orgasmus« 1926 bezweifeln, ob die Orgasmustheorie von Freud ak-
zeptiert werden würde; seither hat sich daran nichts geändert. Dass
die Orgasmus-Funktion von der psychischen Seite her erschlossen
wurde, war zufällig durch meine fachlich-psychoanalytische Tätig-
keit begründet; sie hätte als eine Ur-Funktion der vegetativen Appa-
ratur ebensogut zunächst von der physiologischen oder auch von der
biologischen Seite her erschlossen werden können. Sie wäre in jedem
Falle zum Ausgangspunkt sexualökonomischer Anschauungen gewor-
den, die mit vielen alten, gewohnten Denkweisen brechen.
Die Vorgänge an der Genitalapparatur, die als »Orgasmus« be-
zeichnet werden, entsprechen, wie ich aus der Klinik der sexuellen
Störungen erschliessen konnte, einem Funktionszusammenhang von
mechanischer Spannung (Blutfüllung), elektrischer Ladung (lustvolle
Spannung), elektrischer Entladung (Orgasmus) und mechanischer
Entspannung. Die Vollständigkeit dieser Reihe und die Ungestörtheit
ihrer Funktion wird zum wesentlichsten Kennzeichen des gesunden
psychischen Apparats. Die Fähigkeit zum sexuellen Vollerleben, zur
Ausschaltung aller höheren psychischen Funktionen und zur vorüber-
gehenden Reduktion aller psychischen Tätigkeit auf die vegetative
Funktion der unwillkürlichen Entladung der sexuellen Energie in
spontanen Zuckungen der Muskulatur ist die orgastische Potenz;
sie fehlt oder ist unvollständig bei der weitaus überwiegenden Mehr-
zahl der Menschen des patriarchalischen Gesellschaftssystems, weil
sowohl die sexuell-unterdrückende Erziehung wie die Lebensum-
stände unter dem Privateigentum an Produktionsmitteln ganz allge-
mein ihre Entwicklung hindern. Da sie aber der zentrale Mechanis-
mus der bio-physiologischen Energieumsetzung ist, bedeutet ihr Feh-
len, dass die Menschen in unausgeglichenem, ungeordnetem sexuellen
Haushalt leben. Die nicht orgastisch umgesetzte sexuelle Energie wird
zur Kraftquelle der seelischen Erkrankungen jeder Art,indem sie die
gewöhnlichen Konflikte des Lebens zu neurotischen gestaltet und
als solche fixiert. Doch ist die Orgasmusforschung noch durchaus in
den Anfängen und bedarf vor allem der experimentellen physiologi-
schen und biologischen Begründung, die auf gewaltige Hindernisse
sowohl technischer wie moralischer Art stösst. Doch sind die ersten
Versuche gerade im Gange^).
1) Anmerkung bei der Korrektur. Die erste Versuchsreihe, die den Spannungs-
Ladungsvorgang bestätigen oder widerlegen sollte, fiel vielversprechend aus.
Eine ausführliche Mitteilung über die Ergebnisse der durchgeführten Versuche
wird in den Fachzeitschriften publiziert werden. In einem der nächsteni Hefte
wird auch eine populäre Zusammenfassung über die Bedeutung der Versuche
erscheinen.
Qberblick über das Forschungsgebief der Sexualökonomie
Überblicken wir rasch einige der Grundanschauungen, die sich aus
der bisherigen ürgasmusforschung ergaben.
Die psychoanalytische Theorie der Neurosentherapie kannte als
Ziel der Heilung nur die Triebverurteilung und die Sublimierung ;
ihr Begriff der »Genussfähigkeit« war zu allgemein und unbestimmt,
um das zu erfassen, was die Sexualökonomie unter »orgastischer Po-
tenz« versteht.
Die gesamte frühere Anschauung von den Beziehungen zwischen
Sexualität und Arbeitsleistung bezw. Kulturfähigkeit postulierte einen
Gegensatz beider, auch die psychoanalytische; die Sexualökonomie
sieht in der orgastischen Potenz, d. h. im geordneten Sexualhaushalt,
die wichtigste strukturelle Grundlage der sozialen Leistungsfähigkeit.
Das erste Ziel der Neurosentherapie wird demnach die Herstellung der
»orgastischen Potenz« sein, was so ziemlich allen heutigen gesell-
schaftlichen und moralischen Anschauungen widerspricht.
Die psychoanalytische Technik der Neurosenheilung bediente sich
praktisch im wesentlichen der Deutung des Unbewussten. Die Ein-
führung des sexualökonomischen Moments in die Therapie führte
zum Um- und Ausbau der analytischen Technik im Sinne der
» Charakteranalyse« .
Die Psychoanalyse fasst den sogenannten »Ödipuskomplex«, den
Kind-Eltern-Konflikt, als Kernfrage der kindlichen Entwicklung auf.
Die Sexualökonomie relativiert diese Beziehung und macht die Quali-
tät und Quantität des Kind-Eltern-Konfliktes selbst von der sexual-
ökonomischen Entwicklung des Kindes abhängig. Legt die Psycho-
analyse den Akzent auf den Inhalt des Erlebens, so die Sexualöko-
nomie auf die sexual-ökonomische Affektkonstellation, mit der es
verbunden ist. Die Tatsache der Sexualunterdrückung des Kindes ist
ihr etwa wichtiger als der Inzestwunsch.
Infolge der Unkenntnis der orgastischen Funktion musste der
Psychoanalyse die Bestimmung des »quantitativen Faktors der
Neurose«, der energetischen Quelle der neurotischen Symptome und
Charakterzüge verschlossen bleiben. Mit der nachweisbar unrichtigen
Behauptung, dass es Psychoneurosen bei ungestörter Genitalität gibt,
verschloss sich die psychoanalytische Forschung den Weg zum Ver-
ständnis der Ökonomie des Seelenlebens. Die Sexualökonomie sieht die
Quelle der Energie neurotischer Leistungen in einer Diskrepanz
zwischen vegetativer Energieproduktion und Energieabfuhr, die durch
die orgastische Störung hergestellt wird. Sie erkennt den ökono-
mischen Unterschied zwischen einer Energieabfuhr in einem Symptom
und der Energieabfuhr in der effektiven orgastischen Befriedigung,
fasst also den Begriff der sexuellen Stauung konkret.
Die Psychoanalyse kennt keinen spezifischen Unterschied zwischen
prägenitalen und genitalen Trieben. Sie spricht von Trieben ganz
allgemein und übersieht ihre sexualökonomischen Differenzen (Prä-
genitalität kann immer nur weniger abbauen als aufstauen; nur die
7
Wilhelm Reich
genitale Funktion ist mit der Eigenschaft begabt, ebensoviel an Span-
nung abzubauen, wie aufgestaut wurde). Bei Freud ist die Genitalität
noch vielfach als eine Funktion der Fortpflanzung aufgefasst. Die
Sexualökonomie geht gerade daran, nachzuweisen, dass nicht die
Sexualität eine Funktion der Fortpflanzung, sondern umgekehrt die
Fortpflanzung eine Funktion der Sexualität ist und trifft sich hier
mit den neueren biologischen Anschauungen, z. B. Max Hartmanns.
Die Erforschung des Orgasmus bestätigte nicht nur die ersten
Ansätze Freuds zu einer einheitlichen Theorie der Angst, nachdem
Freud selbst die Beziehungen der Angst zur Sexualität wieder ge-
lockert, sogar völlig aufgegeben hatte; die Vertiefung unserer Kenntnis
von den sexualökonomischen Verhältnissen unserer Kranken führte
im Gegensatz dazu zur Auffassung, dass Sexualerregung und Angst
entgegengesetzte Grunderscheinungen des vegetativen Lebens über-
haupt sind und mit dem Flüssigkeits- und Elektrolytsystem des Or-
ganismus funktionell identisch sind.
So viel von den wichtigsten Unterschieden zwischen Sexual-
ökonomie und Psychoanalyse auf seelischem Gebiet. Doch ist das
Gebiet der Sexualökonomie naturgemäss weiter. Ihr Gegenstand ist
der Sexualprozess in allen seinen Lebenserscheinungen, in den psy-
chischen ebenso wie in den physiologischen, in biologischen ebenso
wie in gesellschaftlichen. Sie ist keine »Querwissenschaft«, wie
manche behaupten, sondern erforscht das Grundgesetz der Sexualität,
das sich in allen Lebenserscheinungen durchsetzt. Hier ist alles noch
im Flusse der Entwicklung.
Eines der wichtigsten Forschungsgebiete der Sexualökonomie ist
die Art der Ordnung des sexuellen Lebens, und hier sind zwei Gebiete
unterschieden: der Sexualhaushalt (= Haushalt der vegetativen
Energie) des Individuums und die Sexualordnung der Gesellschaft,
die jenen bestimmt (»personelle« und »soziale« Sexualökonomie).
Die Sexualökonomie sucht daher auch, indem sie nach der Herkunft
der Sexualverdrängung fragt, die gesellschaftlichen Gesetze auf, nach
denen das Geschlechtsleben der Menschen in verschiedenen geschicht-
lichen Perioden (Matriarchat, Patriarchat, Sowjetsystem) geregelt
wird. Sie fand, dass dieses Leben im Beginn der gesellschaftlichen
Entwicklung von sexualökonomischen Gesetzen geregelt wird. Derart
gelangte sie zu grundsätzlichen Formulierungen über den Unterschied
zwischen sexualmoralischer (»autoritärer Lenkung«) und sexualöko-
nomischer Regulierung (»Selbststeuerung«) des geschlechtlichen
Lebens. Die geschichtlichen Ergebnisse darüber decken sich über-
raschend vollständig mit den Ergebnissen, die man mittels der Charak-
teranalyse am Einzelnen erzielt. Im Einzelfalle setzt die Therapie
an die Stelle der moralischen Regulierung des geschlechtlichen Ver-
haltens die sexualökonomische Selbststeuerung. Die Sexualökonomie
behauptet, dass die Neurosen ein Produkt der moralischen Regulierung
sind und bei sexualökonomischer Regulierung fehlen bezw. wegfallen
8
Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie
müssen. Daraus ergibt sich ein fester Standort nicht nur für die
Beurteilung der gesamten Sexualreform, sondern ganz besonders für
die künftige Neurosenprophylaxe, die ohne den sexualökonomischen
Standpunkt nicht zu bewältigen ist.
Die Moral erzeugt sekundäre asoziale Triebe (Sadismus etc.) und
versucht, ihre Notwendigkeit mit der teuflischen Natur des Menschen
zu begründen. Doch mit der Moral vergeht auch der sekundere Trieb,
den sie beherrschen will. In der amoralischen Tierwelt gibt es auch
keinen Sadismus.
Der sexualökonomische Gesichtspunkt sprengt also die Fesseln, die
dem Denken durch die absolut entgegengesetzten Begriffe »monogam«
und »promiskue«, »Kultur« und »Natur«, »Trieb«, und »Moral« etc.
angelegt wurden, und macht die orgastische Befriedigbarkeit zum we-
sentlichsten Kennzeichen der Beurteilung der sexualökonomischen
Verhältnisse und charakterlichen Verhaltungsweisen des Menschen.
So wie die Moral, indem sie das Gleichgewicht im sexuellen Ekiergie-
haushält stört, Brutalität, Asozialität, Neurosen und Perversionen als
Entlastung für die aufgestaute Sexualenergie erzeugt, so begründet
die orgastische Potenz nach den klinischen Ergebnissen der Neurosen-
therapie das sozial förderliche Verhalten, indem sie den krankhaften
Äusserungen des Seelenlebens die Energie entzieht (»Prinzip des
Energieentzugs«). Nur ist dabei unter »sozial« durchaus nicht das
verstanden, was die Kirche oder auch Alfred Adler meint, sondern
das Interesse an der psychischen Produktivität des Menschen und
dem kollektiven menschlichen Leben.
Von hier aus gesehen nimmt kulturpolitisch die Frage nach der
Struktur und Dynamik der menschlichen »Produktivkraft Arbeits-
kraft« die bedeutsamste Stelle ein. Die Behauptung der Sexualöko-
nomie, dass sie bestimmt ist von der Art der Regelung des Sexual-
haushalts, ist ebenso allgemein angefochten, wie klinisch und theo-
retisch durch hundertfache Erfahrungen gesichert. Der Gegensatz von
»Arbeit aus Pflicht oder materieller Hörigkeit« und »Arbeit aus sach-
lichem und freiwilligem Interesse« drückt auf dem Gebiete der Ar-
beitshygiene genau den Gegensatz von autoritärer Disziplinierung und
sexualökonomischer Selbststeuerung aus. Dass der sexuell Gesunde
und Befriedigte freudiger, strömender und produktiver leistet als der
sexuell Kranke und Unbefriedigte, kann nur einem Denken grotesk
erscheinen, das in der absoluten Gegenüberstellung von Sexualität und
Arbeit, Sexualität und Kultur, Sexualität und Moral, Sexualität und
Sozialität durch eine Jahrtausende alte, religiös bestimmte Philoso-
phie eingefangen und gefesselt ist. Die Beweise, die das Leben hier
millionenfach und die korrekte Klinik der Neurosen unwiderleglich
liefern, zählen noch wenig, weil die Mehrzahl der wissenschaftlichen
Leistungen traditionell befangen ist. So dienen sie nicht etwa der
Entlarvung und besseren Bewältigung bestimmter Phänomene der
Wirklichkeit, sondern kommentieren scholastisch durch Scheinbö-
9
Wihelm Reich
weise alte, aus dem Mittelalter stammende Anschauungen. Dies um-
somehr, je lebensnäher die betreffenden Gebiete sind.
Die Problematik greift jedoch ohne, manchmal sogar gegen den
Willen des Sexualökonomen über dieses Gebiet hinaus. Ihr wohnt
eine geschlossene Logik inne, die jede Grenzziehung vereitelt. Man
möchte sich beschränken, aber die Tatsachen drängen sich bestä-
tigend, oft auch verwirrend von allen Seiten allzusehr auf. Der Kultur-
prozess, der sich auf Grund bestimmter technischer und wirtschaft-
licher Voraussetzungen entwickelt, ist seinem energetischen Wesen
nach, real und konkret fassbar in der durchschnittlichen psychischen
Struktur der Menschen einer Epoche, einer Klasse etc.; da aber die
psychische Struktur bestimmt ist durch die Sexualstruktur und -Öko-
nomie, ist er sexualökonomischer Natur. Die faschistische Mystik
etwa entpuppt sich als eine besondere Abart von Anschauungen über
Familie und Geschlechtsleben der Gesellschaft wie des Einzelnen.
Ihre »Stimme des Blutes« ist nichts anderes als unbewusste orgastische
Sehnsucht. Der kapitalistische Produktionsprozess erzeugt nicht nur
eine bestimmte Sexual- und demzufolge auch Charakterstruktur der
Menschen, sondern er baut auch seine Sexualökonomie seinem eigenen
Ablauf gemäss in bestimmter gesetzmässiger Weise ein. Er vernichtet
die orgastische Potenz und erzeugt derart die kitschige Sentimentali-
tät. Das kann an jedem Film festgestellt werden. Die Religion er-
scheint in diesem Lichte als Sexualität mit negativem Vorzeichen und
die Kirche als internationale sexualpolitische Organisation des
Patriarchats. Die Sexualökonomie masst sich jedoch nicht an, den
gesellschaftlichen Prozess in seiner Wirtschaftsdynamik zu erfassen.
Sie erkennt bloss die Art und Weise, wie sich die gesellschaftliche
und wirtschaftliche Ordnung in den menschlichen Strukturen repro-
duziert und derart Strukturell verankert (»Tradition«). Dies ist das
Gebiet der Politischen Massenpsychologie.
Soweit Beispiele aus dem gesellschaftlichen Prozess. Die Rolle"
der orgastischen Funktion in der Physiologie ist bis zu bestimmten
Formulierungen über die vegetative Funktion umrisshaft erfasst
worden. Ihre biologische Funktion konnte erst kürzlich in einer
theoretischen Arbeit untersucht werden. Hier liegt noch alles im
tiefen Dunkel ungelöster Problematik, doch ist bereits sichergestellt,
dass hier viel unerforschtes und fruchtbarstes Gebiet zu erschliessen
ist. Wenn sich herausstellen sollte, dass der orgastische Spannungs-
Ladungs-Entladungs-Entspannungs-Vorgang auch in der Biologie gilt,
dann hätte die Sexualökonomie ein unerschütterliches Fundament
gewonnen.
Die Sexualökonomie postuliert aufs strengste die Einheitlichkeit
von Theorie und Praxis und versagt allen Theorien und Anschauungen
den Glauben, die ohne die unmittelbare Erfahrung aus dem Leben
der Menschen Anspruch auf Gültigkeit erheben. Aus der heute
gemiedenen, gefürchteten, ja verfemten Erkenntnis, dass die privat-
10
Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie
wirtschaftliche Gesellschaft ihren Mitgliedern das sexuelle Leben in
bestimmter Weise und aus bestimmten Gründen zerstört und dadurch
die patriarchalische Form der Mystik und Religiosität erzeugt (was
zur mächtigsten Kraft der politischen Reaktion geworden ist), ergibt
sich von selbst eine theoretisch gut fundierte sexualpolitische Praxis,
entgegen allen überlegen und vornehm tuenden Logikern und
schwätzenden Ästheten, die Sein und Sollen trennen möchten.
Die Jugend etwa rebelliert von jeher bewusst oder unbewusst
gegen die Unterdrückung ihres sexuellen Lebens; die Kinder tun es
in anderer Form. Aber diese Rebellion würde Gewicht bekommen,
erhielte Rasanz und Durchschlagskraft, wenn der Jugendliche nicht
auch gegen falsche Anschauungen in den eigenen Reihen ankämpfen
müsste, etwa die, dass die sexuelle Befriedigung in der Jugend bio-
logisch schädlich sei; wenn er sich auf eine korrekte, organisiert
vertretene Anschauung stützen könnte, die ihm die sozialen Ver-
ankerungen seines Elends entschleierte. Wenn die Fähigkeit zu sexu-
ellem Vollerleben die wichtigste Grundlage nicht nur persönlichen
Glücks, sondern auch sozialer und kultureller Leistung ist, dann
kehrt sich die Bewertung der Sexualität von selbst um; dann tritt
an die Stelle der Sexualverneinung und -Unterdrückung die volle,
moralisch uneingeschränkte Sexualbejahung und ihre gesellschaft-
liche Befürsorgung. Dass man einem sexuell asozialen oder perversen
Neurotiker nicht moralische Schrankenlosigkeit zubilligen kann, sei
hier ausdrücklich betont, denn meine Gegner lassen es sich sehr
angelegen sein, das Gerücht zu verbreiten, dass ich für uneinge-
schränktes Ausleben, heute in dieser Gesellschaft eintrete. Solange
die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die sexuelle Umstruktu-
rierung des Menschen nicht gegeben sind, solange die sexualökono-
mische Regulierung nicht in allen Fällen gesichert ist, muss die
moralische Regulierung aufrechterhalten werden. Dies soll aber nicht
von den Muckern wieder in dem Sinne ausgenützt werden, als wäre
ich ihrer Meinung. Denn auch noch mit dieser zeitlich begrenzten
' Einschränkung versteht die Sexualökonomie unter Moral etwas ganz
anderes als sie, z. B. dass gesunde Jungens und Mädels im Alter der
Pubertät durchaus nicht an glücklichem Geschlechtserleben, wenn
sie es einrichten können, gehindert werden dürfen; im Gegenteil, man
muss sie gegen die herrschenden Mächte darin unterstützen, weil ihre
spätere Gesundheit und ihr Leben davon abhängen. Hat sich die
menschliche Gesellschaft einmal von den Fesseln der wirtschaftlichen
Ausbeutung befreit, dann gewinnt sie auch das grösste Interesse
daran, dass ihre Mitglieder sexualökonomisch befriedigt leben. Dieses
Interesse hätte an sich auch die Klassengesellschaft; aber erfüllte sie
es, sie würde sich selbst ihre Grundlage zerstören; sie müsste die
Kirche verbieten, ihre Gesetze umstülpen und viele, sehr viele wirt-
schaftliche Voraussetzungen erfüllen; das kann sie nicht tun, ohne
Selbstmord zu begehen. Denn ihr grösseres Interesse ist, sich in den
11
Wilhelm Reich ,
Gesellschaftsmitgliedern ideologisch und strukturell zu reproduzieren,
um sich zu erhalten. Der dem Mystizismus verfallene, beschränkte,
hörige und gleichzeitig brutale Untertan ist ein Produkt der Sexual-
unterdrückung. Dies ist der wichtigste politische Gesichtspunkt der
Sexualökonomie, den die ökonomistisch orientierten Marxisten nicht
begreifen, obgleich die Kirche täglich vor ihren Augen den Untertanen,
wie er eben umrissen wurde, mit Hilfe der sexuellen Unterjochung
massenhaft erzeugt. In weiterer Konsequenz ergibt sich nicht nur,
dass die sozialistische Gesellschaft die Bedingungen für die sexuelle
Ökonomie der Massen freisetzt, sondern mehr noch: ihre Ordnung
kann sich strukturell-menschlich nur reproduzieren, wenn sie an die
Stelle der moralischen, uniformierenden Zwangsordnung die sexual-
ökonomische Selbststeuerung des geschlechtlichen Lebens treten lässt.
Diejenigen, die als Vertreter der Sexualökonomie fungieren, sind
für die Unbescheidenheit ihrer Problematik nicht verantwortlich,
wohl aber für das Schicksal der sexualökonomischen Forschung, die
sich zu einer selbständigen Disziplin mit der Orgasmuslehre als Kern
zu entwickeln beginnt. Eine ausführliche zusammenfassende Dar-
stellung wäre jetzt verfrüht. Man merkt aber an den angeführten
Problemgebieten, dass die Sexualökonomie keine Addition von marx-
istischer Wirtschafts- und Gesellschaftslehre und freudistischer
Seelenlehre ist, sondern etwas ganz anderes, drittes: die dialektisch-
materialistische Lehre von der Sexualität und ihrem Grundgesetz.
Von der Psychoanalyse übernimmt die Sexualökonomie mit einigen
Korrektüren die Lehre von der kindlichen Sexualentwicklung, vom
^iL'iiyi^^yill^?. ^^^'^^l'^'^^'^'^ängungsmechanismus ""^d vom Unbewussten;
vom Marxismus übernimmt sie die Untersuchungsmethode des dia-
lektischen Materialismus, der, auf das Gebiet des Sexualprozesses
angewendet, eben die Theorie der Sexualökonomie ergibt. Doch die
Erforschung der orgastischen Lustfunktion hat die Methode der ma-
terialistischen Dialektik in wichtigen Stücken vervollständigen und
verfeinern müssen; das betrifft besonders ihre konkrete Anwendung
auf psychische und physiologische Tatbestände und die Formulierung
über die Dissoziation und Gegenüberstellung, die, soweit ich orientiert
bin, sich weder bei Marx noch bei Hegel in dieser Form findet.
Versteht man unter Marxismus nur eine bestimmte Lehre über
bestimmte Prozesse der Gesellschaft und ihrer Wirtschaft, dann ist
die Sexualökonomie keine marxistische Disziplin, dies ebensowenig
wie eine freudistische. Versteht man dagegen unter Marxismus
zunächst die naturwissenschaftliche Anschauung der Natur und der
Gesellschaft überhaupt, oder, anders ausgedrückt, alle Forschung, die
sich bewusst oder unbewusst der dialektisch-materialistischen Unter-
suchungsmethode, Anschauung und Formulierung bedient, dann ist
die Sexualökonomie mit vollem Recht als marxistische Disziplin zu
bezeichnen. Die Missverständnisse rühren hier meist daher, dass viele
theoretische Marxisten nicht oder nicht genügend zwischen Tatsachen-
12
Überblick über das Forschungsgebiet der Sexualökonomie
theorie und Untersuchungsmethode unterscheiden und infolgedessen
etwa den sexuellen Ideologieprozess erklärt zu haben glauben, wenn
sie die wirtschaftliche Basis nennen, auf der er sich abspielt; sie
übertragen ökonomische Lehrsätze in andere Gebiete, statt in ihnen
nur die dialektisch-materialistische Methode anzuwenden; dadurch
werden sie Ökonomistisch. Hinsichtlich der Methode ist die Sexual-
okonomie dem Marxismus als wissenschaftlicher Weltanschauung
untergeordnet wie die psychoanalytische Seelenlehre oder die Marx-
sche Gesellschaftslehre. Hinsichtlich der Tatsachentheorie ist die
Sexualökonomie ebenso wie die Psychoanalyse der Wirtschaftslehre
als Disziplin gleichgeordnet.
Die Sexualökonomie muss jedem in ihrem Wesen verschlossen
bleiben, der den Marxismus und die Psychoanalyse nicht genügend
kennt. Besonders wichtig ist es, nicht den vielen unrichtigen An-
schauungen über ihre gegenseitigen Beziehungen zu verfallen. Wenn
ich die Formulierung: »Sexualökonomie ist gleich Marxismus plus
Freudismus«, als irreführend ablehne, so stimme ich einer anderen
zu, die kürzlich getroffen wurde: Die Sexualökonomie hat den
Mamsmus zum Vater und die Psychoanalyse zur Mutter. Ein Kind
ist aber mehr als eine einfache Addition der beiden Eltern: Es ist
ein neues Lebewesen und will als solches betrachtet werden. Eines
seiner wesentlichsten Kennzeichen ist, dass es entschlossen ist, eine
naturwissenschaftliche Disziplin bewusst in den Dienst der sozia-
listischen Freiheitsbewegung zu stellen.
Wilhelm Reich: (Zweife erweiferte Auflage)
EINBRUCH DER SEXUALMORAL
Zur Geschichfe der sexuellen Ökonomie
Mit einem Fremdwörterverzeichnis und
zahlreichen graphischen Darstellungen.
Oktav, 160 Seifen Preis : karf. Dan. Kr. 6.—, gebunden Dan. Kr. 8.—
■^^^^^■^■i^^HH Aus dem Inhalt: ^^^Hi^^^^HBH^Hi
Herkunft der Sexualverdrängung.
Sexuelle Ökonomie in der mutterrechtlichen Gesellschaft.
Der Einbruch der sexualfeindlichen Moral.
Mutterrecht — Urkommunismus; Vaterrecht ■ — Privateigentum.
Bachofen, MacLennan, Morgan — Engels.
Claneinteilung und Inzestverbot.
Das Problem der Sexualökonomie.
Sexualunterdrückung und Klassengegensätze von Mann und Frau.
Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftliche Realität.
Produktion und Reproduktion der Sexualmoral.
(Nachtrag) Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«.
SEX-POL-VERLAG, KOPENHAGEN: POSTBOX 827
J. H. Leunbach
Von der bürgerlichen Sexualrefornn
zur revolutionären Sexualpolitik
Von J. H. Leunbach
Unter den vielen Kulturorganisationen, die der Hitlerfascismus
rücksichtslos zerstört hat, befand sich die Weltliga für Sexualreform,
die im Institut für Sexualwissenschaft ihre Zentralstelle hatte. Magnus
Hirschfeld, der Begründer des Instituts, ist emigriert und hat versucht
in Frankreich, sein Werk in bescheidener Form wieder aufzubauen.
Die WLSR existiert noch formell und hat in verschiedenen Ländern
Sektionen. Die internationale Tätigkeit ist aber seit dem letzten
Kongress im Jahre 1932 fast völlig lahmgelegt. Während ihres kurzen
Bestehens (seit 1928) ist die WLSR in weiten Kreisen bekannt ge-
worden und ihre Arbeit begegnete grossem Interesse. Man hat Ver-
anlassung, zu fragen, ob das Schicksal, das die WLSR getroffen hat,
nicht ebensosehr durch innere Schwäche als durch äussere Grewalt
hervorgerufen sei.
Ich war selbst Mitbegründer der WLSR und habe während der
ganzen Zeit an der Leitung und Organisation teilgenommen, zuerst
als Generalsekretär, später als Mitglied des Präsidiums. Ich meine
deshalb, genügend informiert zu sein, um mir eine kritische Wertung
gestatten zu können.
Innerhalb Deutschlands hat Magnus Hirschfeld während vier
Jahrzehnten unermüdlich gearbeitet, um eine wissenschaftliche Auf-
fassung dem Geschlechtsleben gegenüber und eine humanere Be-
urteilung der sexuellen Abweichungen durchzusetzen. Seine Arbeit
hat auch einen grossen praktischen Erfolg gehabt. Bis zu dem Tag,
an dem der Nationalsozialismus mit brutaler Hand alle humanen
Forschrittsbestrebungen niederschlug, war Deutschland wirklich —
und zum grossen Teil durch Hirschfelds Verdienst gegenüber der
Homosexualität und den Perversionen ziemlich tolerant geworden.
Die wissenschaftliche Leistung Hirschfelds besteht hauptsächlich
in einer eingehenden Schilderung und Systematisierung der vielen
Formen, welche die von der Norm abweichende Sexualität aufzeigen
14
Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik
kann. Mittels eines künstlerischen Darstellungsvermögens und auf
der Grundlage unzähliger Beispiele aus dem wirklichen Leben hat er
die verschiedenen Sexualtypen beschrieben. Mit vollem Recht haben
Hirschfelds Werke seinen Namen über die ganze Welt bekannt
gemacht.
Es war lange sein heissester Wunsch gewesen, eine Weltorganisa-
tion zu gründen zu dem Zwecke, »dass aus den Forschungsergebnissen
der biologischen, psychologischen und soziologischen Sexualwissen-
schaft die praktischen Folgerungen für die Beurteilung und Neu-
gestaltung des menschlichen Geschlechts- und Liebeslebens gezogen
werden.«
Hirschfeld war der Gründer und der Hauptleiter der WLSR. In-
folgedessen haben seine wissenschaftlichen Theorien und seine soziale
Auffassung das Programm und die Richtlinien der Liga bestimmt.
Zwei andere Altmeister der Sexualreform, Forel und Havelock
Ellis, stellten ihren Namen der WLSR zur Verfügung und waren mit
ihrem Programm einverstanden. Sie haben aber nicht an der prak-
tischen Arbeit teilgenommen und konnten so keinen direkten Einfluss
ausüben. Bei der Gründung im Jahre 1928 haben wir uns auch an
Sigmund Freud gewandt, um ihn als Mitbegründer zu gewinnen. Er
hat dies abgelehnt mit der Motivierung, er möchte nicht mit seinem
Namen eine Organisation stützen, in der er nicht persönlich mit-
arbeiten könnte.
Nach Hirschfelds sexualwissenschaftlicher Auffassung sind die
meisten Abweichungen von der normalen heterosexuellen Sexualität
auf angeborene ei-bliche Anlagen zurückzuführen. Die Homosexualität
ist weder Krankheit noch Laster, sondern eine konstitutionelle
Andersartigkeit, völlig gleichwertig und gleichberechtigt mit der
HeteroSexualität. Die Perversionen, Fetischismus, Masochismus etc.
sind nicht eigentlich krankhafte aber dennoch zu bedauernde Phä-
nomene. Man sollte danach streben, die perversen Personen in Um-
gebungen zu bringen, wo die angeborenen Anlagen so wenig Konflikte
wie möglich hervorrufen. Eine eigentliche Behandlung oder Vorbeugung
finden in diesem System keinen Platz, höchstens eine eugenische
Ausmerzung der perversen Anlagen dadurch, dass die Perversen keine
Nachkommen in die Welt setzen.
Für die Beurteilung des Programms und der Tätigkeit der WLSR
ist es wichtig, die Differenzen der Hirsc/i/eZrfschen Theorie mit der
psychoanalytischen Lehre hervorzuheben. Freud hat entdeckt, dass
Kinder sexuelle- Triebregungen verschiedenster Art nebeneinander
haben, z. B. dass es sexuelle Erlebnisse beim Lutschen, Beissen,
Kotschmieren etc. gibt.
Da die Erlebnisse an den Geschlechtsteilen in diesem frühen Alter
eine verhältnismässig geringe Rolle spielen, bezeichnet Freud die
sexuelle Natur des Kleinkindes als »polymorph (= vielgestaltig)
pervers«. Nach Freud entstehen die Perversionen der Erwachsenen
15
J. H. Leunbach
durch ein kindliches Erleben, das den Sexualtrieb bei einer dieser
früheren Formen festhält. Wenn solche perverse Triebe verdrängt
werden, entstehen Neurosen oder Psychosen (Geisteskrankheiten).
Wenn der pervertierte Trieb dagegen bewusst bleibt, von der Person
bejaht wird, so kommt es zu manifesten (offen sichtbaren) Per-
versionen.
Wilhelm Reichs Sexualökonomie findet die Ursache der Perver-
sionen und Neurosen in der falschen Erziehung, die die Sexualität
und speziell die Genitalität der Kinder unterdrückt. (Mit Genitalität
ist hier insbesondere Onanie, sexuelle Neugierde, sexuelle Spiele
gemeint).
Diese Erklärung ermöglicht nicht nur eine Therapie (= Be-
handlung), sondern unter gewissen sozialen Voraussetzungen auch
eine Prophylaxe (== Vorbeugung).
Hirschfeld war Sozialist und als solcher davon überzeugt, dass es
erst in einer sozialistischen Gesellschaft möglich sein wird, das
Geschlechtsleben der Menschen den Forderungen der Wissenschaft
gemäss zu regeln. Aber wie bei so vielen intellektuellen Humanisten
gehörte Hirschfeld zu den Sozialisten einer unpolitischen Art ; er gehörte
weder zur Sozialdemokratie noch zum Kommunismus. Zur ersteren
nicht, weil sie zu kleinbürgerlich geworden ist. Auf der anderen Seite
hatte Hirschfeld sicherlich wie die meisten Intellektuellen Angst vor
der brutalen Kraft der proletarischen Revolution, die blindlings vor-
wärts stürmend nicht nur das kapitalistische Gebäude niederreisst,
sondern auch rücksichtslos vieles zertrümmert, das die intellektuellen
Humanisten als besonders wertvoll schätzen. Hirschfeld war nie im-
stande, sich der revolutionären Arbeiterbewegung anzuschliessen, und
die WLSR hat sich immer bestrebt, die unpolitische Linie einzuhalten,
um ein Zusammenarbeiten mit Menschen aus allen Lagern zu er-
möglichen.
Hirschfeld hat sich öfters darüber beklagt, dass von zwei Seiten
versucht wurde, Kuckuckseier in das Nest der WLSR zu legen,
nämlich von den Psychoanalytikern und von den Kommunisten. Die
allergefährlichsten Kuckuckseier könnten also wohl von der Sexual-
ökonomie herstammen, weil sie sozusagen die Psychoanalyse als
Mutter und den Kommunismus als Vater hat.
Im Vorstand der WLSR stimmten wir alle überein, die Plattform,
die uns von Wilhelm Reich (März 1931) unterbreitet wurde, abzu-
lehnen. Diese Plattform anzunehmen hätte bedeutet, sich auf die
Seite der proletarischen Revolution zu stellen. Solange wir es für
opportun hielten, eine unpolitische Stellung aufrechtzuerhalten und
ein Zusammenarbeiten mit allen Sexualreformern zu suchen, wäre es
unmöglich gewesen, uns auf Reichs Linie zu stellen, selbst wenn
einige von uns sich mit ihm im Prinzip einig erklärt hätten.
In dieser Plattform, die in »Zeitschrift für politische Psychologie
und Sexualökonomie«, Heft 3/4 abgedruckt worden ist, gibt es
16
Von der bürgerlichen Sexualräform zur revolutionären Sexualpolitilc
verschiedene Formulierungen, die wir nicht akzeptieren konnten.
Seite 263 steht unten von dem sexuellen Elend der Massen: »Wenn
es auch die besitzenden Klassen durchsetzt, so können sich diese
leicht jede Art von ärztlicher Hilfe und sonstiger Erleichterung
verschaffen, «
Erstens konnten wir die Richtigkeit dieser Behauptung nicht
anerkennen, und zweitens sollte die WLSR ihre Anhänger eben unter
Intellektuellen und ökonomisch besser gestellten Menschen gewinnen,
die am eigenen Leibe die Sexualnot spüren. Diese Formulierung
Reichs war also für uns unannehmbar. Wir haben dennoch keine
Verhandlung darüber eingeleitet, weil wir jedenfalls die Plattform
ablehnen mussten, selbst wenn Reich in diesem einen Punkt seinen
Entwurf geändert hätte.
Nachdem die Reaktionswelle des Fascismus die Welt über-
schwemmt und damit droht, die hochgepriesene Zivilisation in eine
Kulturbarbarei zu verwandeln, ist es leichter geworden, einzusehen,
dass der Versuch der Weltliga, Sexualreformen auf unpolitischem
Wege durchzuführen, utopisch war und nur Illusionen erwecken
konnte. Damals haben wir aber wirklich daran geglaubt.
Die wissenschaftlichen Theorien Hirschfelds, welche die Ursache
der Perversionen in der angeborenen Konstitution erblicken, er-
möglichen auch den Glauben, dass viele Sexualreformen ohne einen
notwendigen Konflikt mit der bürgerlichen Gesellschaft durch-
führbar wären.
Die Auffassung der Sexualökonomie, dass die sexualfeindliche
Erziehung der Kinder die Hauptquelle der verschiedenen Formen der
persönlichen Sexualnöte und die Sexualunterdrückung ein notwen-
diger und fest verankerter Bestandteil der patriarchalischen Familie
und der Klassengesellschaft ist, lässt keinen Raum für derartige
Illusionen.
Es ist also kein Zufall, dass Hirschfelds Theorien die Grundlage
einer reformistischen Bewegung wurden, während Reichs Auf-
fassungen eine wirkliche Sexualrevolution begründen. Das war aber
nicht der einzige Grund, weshalb die richtlinien der WLSR
einen kompromisslerischen Charakter erhielten. Noch mehr hat der
Versuch, die Sexualreformbewegungen der verschiedenen Länder
unter einen Hut zu bringen, dazu beigetragen. In England zum
Beispiel ist die Sexualreform rein bürgerlich und völlig unsozialistisch.
Weder in England noch in Frankreich oder Holland hat die WLSR
irgend eine Beziehung zur proletarischen revolutionären Bewegung
gehabt. In Deutschland und Skandinavien waren die meisten Mit-
glieder der WLSR sozialistische oder kommunistische Intellektuelle.
Die Differenzen kamen besonders deutlich zum Ausdruck, sobald
Resolutionen angenommen werden sollten. Stundenlange mühevolle
Arbeit war immer notwendig, um der Resolution eine Form zu geben,
die von allen Seiten akzeptiert werden konnte. Einmal ist es vor-
17
J. H. Launbach
gekommen, dass nur dadurch Einigkeit erreicht worden ist, dass der
englische Wortlaut einen etwas anderen Sinn als der deutsche bekam.
Besonders klar wurden solche Resolutionen natürlich nicht.
Die reformistischen Tendenzen und der Versuch, Sexualreformen
mittels einer unpolitischen Bewegung durchzusetzen, erhellen sehr
deutlich aus den 10 Programpunkten der WLSR:
1. Politische, wirtschaftliche und sexuelle Gleichberechtigung der Frau.
Gegen diese Forderung ist nichts einzuwenden. Nur waren die
vorgeschlagenen Mittel zur Durchführung dieser Forderung unzu-
reichend. Empfängnisverhütung und Rechtsreformen können keine
wirkliche Befreiung der Frau durchsetzen, solange die patriarchali-
sche Familienform und die bürgerliche Eheinstitution aufrechterhal-
ten werden.
2. Befreiung der Ehe (besonders der Ehescheidung) von kirchlicher
und staatlicher Bevormundung.
Dieser Punkt ist, genau angesehen, eine Bejahung der bürgerlichen
Eheinstitution, eine Art Rettung der Ehe mittels Erleichterung der
Scheidung und Milderung der schlimmsten Misstände. Es wäre viel
richtiger gewesen, die Einführung der Sowjet-Ehe vorzuschlagen. Das
wurde auch von deutscher Seite verlangt, ist aber gescheitert, haupt-
sächlich weil die Engländer erklärten, es wäre unmöglich, in England
für ein so radikales Program zu arbeiten.
In meinem Kongressvortrag in Kopenhagen 1928 habe ich gesagt,
dass der Zweck der Ehe nicht sei, das Glück der Individuen zu errei-
chen, sondern nur oder hauptsächlich den Unterhalt und die Erzie-
hung der neuen Generation zu sichern. Erst die sexualökonomische
Theorie hat mich gelehrt, dass der wichtigste Zweck der Ehe auch
incht die Sicherung der neuen Generation sei. Im Grunde ge-
nommen bietet die Eheinstitution eine sehr kümmerliche Garantie
für die Unterhaltung der Kinder. Eine kollektive Kindererziehung
durch den Staat könnte eine hundertmal so sichere Garantie für die
anwachsende Generation abgeben. In der kapitalistischen Gesell-
schaft ist die wichtigste Aufgabe der Ehe und Familie die Sexual-
unterdrückung und die Erziehung der Kinder zu gehorsamen, folg-
samen, ängstlichen Untertanen, die sich willig und geduldig ausbeuten
lassen.
Geburtenregelung allein kann also keine Revolution der Ehe her-
vorrufen, selbst wenn es auch richtig ist, dass die Trennung des
Geschlechtslebens von der Fortpflanzung eine notwendige Vorbedin-
gung ist.
Ich habe damals auch gesagt, die Eheinstitution und die Ge-
schlechtsmoral wären notwendige Formen einer Geburtenregelung ge-
18
Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik
Wesen, die nur durch neue technische Formen der Geburtenregelung
zu ersetzen wären. Hier habe ich wieder — wie überall in meiner
damaligen Produktion — den Fehler gemacht, die soziale Bedeutung
und Bedingung der Sexualunterdrückung zu übersehen und gleich-
zeitig die Bedeutung der Empfängnisverhütung zu überschätzen.
3. Geburtenregelung im Sinne verantwortlicher Kindererzeugung.
Weil die Geburtenregelung diejenige Stelle ist, wo am leichtesten
eine praktische Tätigkeit einsetzen kann, war die Tendenz immer
vorhanden, die Bedeutung der Geburtenregelung zu überschätzen. Über
die Notwendigkeit der Geburtenregelung und die Wichtigkeit der
Präventivtechnik waren alle einig und das Thema wurde auf allen
Kongressen eingehend erörtert. Ein geplanter Kongress in Paris ist
aufgegeben worden, weil die Franzosen meinten, eine Behandlung
dieses Themas wäre zu gefährlich und könnte alle Teilnehmer des
Kongresses ins Gefängnis bringen.
Bei der Abtreibungsfrage kamen wieder die englischen und deut-
schen Differenzen zum Vorschein. Die Deutschen wollten die Bestra-
fung abschaffen, die Engländer nur die Gesetze ändern.
4. Eugenische Beeinflussung der Nachkommenschaft.
Die Auffassung, dass Sexualabnormitäten auf angeborenen Kon-
stitutionsfehlern beruhen, muss natürlich der Eugenik einen viel'grös-
seren Wert zugestehen als die sexualökonomische Theorie, die die
Hauptursache in der falschen Kindererziehung sieht. Von einem
englischen Redner wurde auf dem londoner Kongress im Jahre 1929
vorgeschlagen, alle armen (sie!) Ehepaare mit mehr als zwei Kindern
zu sterilisieren. Dieser Vorschlag wurde freilich von niemandem ernst
genommen.
Ich war früher davon überzeugt, dass eugenische Massnahmen
dringend notwendig seien, um eine Kontraselektion und Verschlech-
terung der Erbmasse der Menschheit zu verhindern. Jetzt habe ich
von der Sexualökonomie gelernt, dass die Milieubeeinflussungen
und hauptsächlich die Kindererziehung und Sexualunterdrückung in
einem solchen Ausmasse Geistesstörungen und nervöse Leiden her-
vorrufen, die man sonst als Folgen der »Degeneration« und erblichen
Psychopathie angesehen hat, dass man vorläufig gar nicht wissen
kann, welche geistigen Leiden erbbedingt und welche milieubedingt
sind. Erst in einer Zukunftsgesellschaft mit günstigeren Daseinsbe-
dingungen für Alle, mit einer rationellen Kindererziehung und ohne
Sexualunterdrückung kann dies entschieden werden.
Die an sich richtige Idee der Eugenik wird unter den heutigen
Verhältnissen von den reaktionären Machthabern missbraucht, um
Missstände, die durch die äusseren sozialen Verhältnisse hervorgeru-
fen sind, als biologisch bedingt und aus vererbter Degeneration her-
19
J. H. Leunbach
stammend darzustellen. Die Eugenik steht heutzutage im Dienste der
Reaktion. Das ist leider eine Tatsache und es hat keinen Zweck, die
Augen davor zu verschliessen.
Als Revolutionäre müssen wir jede Form der faschistischen und
reaktionären Rassenhygiene bekämpfen. Eine wirkliche, revolutio-
näre, rationelle Eugenik kann erst nach dem Siege des Sozialismus
durchgeführt werden.
5. Schutz der unehelichen Mütter und Kinder.
In der Formulierung liegt schon eine Rejahung der bürgerlichen
Ehe verborgen. Nur will man die schlimmsten Folgen etwas mildern.
Anstatt dessen hätte man natürlich, wie die Ehegesetze der Sowjet-
Union eine völlige Ausmerzung des Begriffes der Unehelichkeit ver-
langen müssen. ,
6. Richtige Beurteilung der intersexuellen Varianten, insbesondere
auch der homosexuellen Männer und Frauen.
Unter »richtiger Beurteilung« versteht das Programm natürlich
die Hirschfeldsche Theorie. Die praktischen Konsequenzen sind, dass
jede Verfolgung und Misshandlung der sexuellen Varianten einge-
stellt werden soll. Diese Forderung ist zwar richtig und notwendig,
aber sie ist viel weniger revolutionär und zugleich ungefährlicher als
die Forderung, die aus dem sexualökonomischen Gesichtspunkt her-
vorgeht. Die charakteranalytische Erklärung der Perversion und die
sexualokonomische Prophylaxe verlangen eine Revolutionierung der
Kindererziehung, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft undurch-
führbar ist.
7. Verhütung der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten.
Die Geschlechtskrankheiten können natürlich auch innerhalb der
bürgerlichen Gesellschaft bekämpft werden, selbst wenn der Erfolg
durch die sozialen Verhältnisse beeinträchtigt wird. Die Prostitution
kann aber nur mittels Beseitigung der sozialen Not und der bürger-
lichen Sexualmoral — also erst in einer sozialistischen Gesellschaft
— überwunden werden. Dieser Programmpunkt ist auf den Kon-
gressen ziemlich wenig behandelt worden.
8. Die Auffassung sexueller Triebstörungen, nicht wie bisher als
Verbrechen, Sünde oder Laster, sondern als mehr oder weniger
krankhafte Erscheinungen.
Punkt 8 gehört eigentlich unter Punkt 6. Dass dieselbe Sache
zwei verschiedene Programmpunkte einnimmt, hängt damit zusam-
men, dass diese Seite der sexuellen Frage Hirschfeld besonders am
Herzen lag. Die Kritik ist unter 6) gegeben.
20
Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik
9. Ein Sexualstraf recht, das nur wirkliche Eingriffe in die Ge-
schlechtsfreiheit einer zweiten Person bestraft, nicht aber selbst in
Geschlechtshandlungen eingreift, welche auf dem übereinstimmenden
Geschlechtswillen erwachsener Menschen beruhen.
Wäre unter Eingriffen in die Geschleclitsfreiheit zum Beispiel die
Sexualunterdrückung der Jugend von Seiten der Eltern mit einbe-
griffen, wäre diese Forderung gewiss sehr revolutionär. So war es
aber nicht gemeint. Eingriffe in die Geschlechtsfreiheit sind Verge-
waltigungen oder Erzwingen einer Sexualhandlung gegen den Willen
des Partners. Wenn ein Sexualstrafrecht überhaupt bestehen soll,
wäre es richtiger, solche Personen zu bestrafen, die Frauen und
Jugendliche daran hindern, ein normales Geschlechtsleben zu leben.
In diesem Falle müsste man aber mindestens die eine Hälfte aller
Menschen bestrafen, und das wäre keine sehr praktische Forderung.
Meine persönliche Meinung war immer die, dass man sich für die
Abschaffung jeder Sexualbestrafung einsetzen solle. Weil dieser
Standpunkt von allen Seiten abgelehnt wurde, werde ich hier die Ge-
legenheit benutzen, um meine Meinung etwas ausführlicher zu be-
gründen:
a) Die Bestrafung einer Sexualhandlung wirkt viel verheerender,
nicht nur auf die bestrafte Person, sondern auch auf alle anderen,
die davon erfahren, als Bestrafungen wegen eines nicht sexuellen
Vergehens. Sie provoziert die Ängste und Hemmungen und zugleich
die sadistischen Regungen, die während der Kindheit durch Onanie-
bestrafung, Kastrationsdrohung usw. allen Menschen eingepaukt
worden sind.
Wie die sadistischen Regungen hervorgerufen werden, sieht man,
wenn die Zeitungen über ein Sexualverbrechen, eine Vergewaltigung
und ähnliches berichten. Jedesmal erheben sich Stimmen, öfters von
Priestern und religiösen Frauen, die die Wiedereinführung der Todes-
strafe oder der Prügelstrafe fordern.
b) Die allermeisten Sexualhandlungen, die bestraft werden, sind
nicht im mindesten sozialgefährlich, sondern Verstössen nur gegen
die Sexualmoral. Ein Strafrecht sollte nicht die Aufgabe haben, die
Moral zu unterstützen, sondern nur sozialgefährlichen Handlungen
vorzubeugen.
c) Die Bestrafung kann die Wiederholung eines ähnlichen Ver-
gehens nicht verhindern, weil öfters das Vergehen in einem mehr
oder weniger unbewussten leidenschaftlichen Zustand erfolgt, der
durch die Stauung unbefriedigter Libido hervorgerufen ist. Die Be-
strafung kann die Libidostauung nicht herabsetzen, nur erhöhen.
d) In einer Gesellschaft, die die Sexualunterdrückung braucht,
wird jedes Gesetz, das eine Regelung des Geschlechtslebens anstrebt,
die Tendenz haben, die Sexualität zu unterdrücken. Welche Form der
Rationalisierung (= eine Erklärung, die den wirklichen Grund einer
21
J. H. Leunbach
Massnahme, einer Handlung, eines Gesetzes usw. verhüllen soll) auch
von Seiten der herrschenden Klasse verwendet wird, die Tendenz wird
immer bleiben: Sexualunterdrückung der Kinder, der Frauen und
der gesamten Proletarier und Kleinbürger.
e) Das Strafrecht ist kein Ausdruck des »Rechtsbewusstseins des
Volkes«, sondern in erster Linie ein Machtmittel der herrschenden
Klasse. Eine klassenlose Gesellschaft wird wohl auf Strafrecht ver-
zichten können. In der heutigen bürgerlichen Gesellschaft wirken alle
Strafbestimmungen gegen die revolutionäre Bewegung und für die
Reaktion.
Nach der proletarischen Revolution kann das Strafrecht ein not-
wendiges Machtmittel der Diktatur des Proletariats werden. Nur
kann man verlangen, dass das Strafrecht als solches anerkannt wird
— wie es ja auch in der Sowjet-Union der Fall ist — und nicht als
Ausdruck einer »ewigen Rechtfertigung« hingestellt wird. Ein
»Sexualstraf recht« braucht die Diktatur des Proletariats nicht.
»Sexuelle Ausbeuter müssen doch bestraft werden!« wendet man ein.
Ich sage aber: Nein! nicht Strafe, sondern Vorbeugungsmassregeln,
Behandlung, Erziehung und eventuelle Isolierung der Sexualverbre-
cher. Wenn man nun sagt, dass Strafe und Vorbeugungsmassnahmen
sich nicht gegenseitig ausschliessen, so behaupte ich dagegen:
f) Die Strafe ist keine wirkliche Lösung! Jedes Verbrechen, das
begangen wird, sollte zu einer genauen Untersuchung Anlass geben.
Alle Ursachen des Verbrechens sollten aufgesucht und aufgedeckt
werden. Nur dadurch wird man zu einer Prophylaxe des Verbrechens
kommen. Solange der viel bequemere Ausweg, nämlich die Bestra-
fung des Delinquenten, benutzt werden kann, werden die Behörden
nicht den viel schwierigeren Weg zur Prophylaxe gehen. BeispieL'
Solange die Abtreibungsbestrafung besteht, wird die Abortprophylaxe
nicht aufgebaut werden. Nur in der Sowjet-Union, wo der Abort le-
galisiert worden ist, wird von Seiten der Behörden Prophylaxe ge-
trieben. Und auch dort gibt es die Tendenz, die Abtreibung so schwie-
rig wie möglich zu machen, wahrscheinlich ein Versuch, um den Weg
zur Prophylaxe zu vermeiden.
Noch viel schlimmer ist es aber, dass die Sowjet-Union jetzt die
Bestrafung wegen Homosexualität wieder eingeführt hat. Solche
Strafgesetze werden den Kampf gegen die Sexualunterdrückung und
die falsche Kindererziehung direkt verhindern.
g) Die Strafbestimmungen gegen sexuelle Handlungen öffnen mehr
als andere Strafgesetze Tür und Tor für die schlimmsten Missbräuche:
Erpressungen, Anzeigen als persönliche Racheakte oder der Kon-
kurrenz wegen, Anklagen wegen Sexualverbrechen als Vorwand, um
einen politischen oder persönlichen Feind treffen zu können, usw.
Die logische Folgerung dieser Erwägungen kann nur sein: Ab-
schaffung jedes Sexualstrafrechts!
22
Von der bürgerlichen Sexualreform zur revoluf'onären Sexualpolitik
10. Planmässige Sexualerziehung und Aufklärung.
Dieser Punkt besagt sehr wenig, wenn nicht ausdrücklich betont
wird, welche Sexualerziehung gemeint wird, ob eine Bejahung der
Sexualität des Kindes und der Jugendlichen, oder eine Fortsetzung
der Sexualunterdrückung der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist kein
Zufall, dass dieser Punkt so unbestimmt formuliert worden ist. Es
wäre nämlich völlig unmöglich gewesen, die verschiedenen Richtun-
gen innerhalb der WLSR um ein bestimmt formuliertes Erziehungs-
programm zu vereinigen.
Noch charakteristischer als die zehn angeführten Punkte sind
eigentlich die Forderungen, die nicht zum Ausdruck im Programm
gekommen sind. Während Punkt 6 und 8 und eigentlich auch 9 die
Geschlechtsfreiheit für Homosexuelle und Perverse fordern, steht im
Programm kein Wort über die Sexualität der Jugend und der Kinder.
Auf diesem Gebiete ist es nämlich unmöglich, unpolitisch zu bleiben.
Für das Unpolitischbleiben ist die Hirschfeldsche Erklärung der Per-
versionen als Folgen angeborener Anlagen auch viel bequemer als
die psychoanalytische Erklärung, die erst von Wilhelm Reich ganz
konsequent durchgeführt worden ist. Die Erklärung der Sexualöko-
nomie muss logischerweise zu der Forderung einer Prophylaxe führen,
die in der Befreiung der kindlichen Sexualität besteht. Diese Forde-
ruüg führt zu einem unlösbaren Konflikt mit der bürgerlichen Gesell-
schaft und der patriarchalischen Familie.
Durch den Versuch, Sexualreformer aus allen Ländern und allen
Richtungen zusammenzufassen, wurde die WLSR ein Kompromiss
und eine Mischung von bürgerlicher und revolutionärer Sexualre-
form. Scheinbar konnte sie, ausser den konsequent reaktionären ka-
tholischen sexualfeindlichen und den wirklich revolutionären sexual-
ökonomischen alle Meinungen vereinigen.
Der Unterschied zwischen revolutionärer und bürgerlicher Sexual-
reform kann kurz dadurch ausgedrückt werden, dass jene eine Be-
jahung und diese eine Duldung der Sexualität bedeutet.
Das Program der WLSR ist nun eine Mischung von Bejahung und
Duldung. Die Ehereform ist eine Duldung und milde Beurteilung der
»leider unvermeidlichen« Misstände des ehelichen Geschlechtslebens.
Schutz der unehelichen Mütter und Kinder ist eine Duldung der aus-
serehelichen Sexualität und sie versucht blosse Milderung der sozialen
Diffamierung.
Die Sexualität der Homosexuellen wird nicht nur geduldet, sondern
direkt bejaht. Im Gegensatz hierzu wird die Sexualität der Jugend
überhaupt nicht erwähnt, also weder geduldet noch bejaht.
Die revolutionäre Sexualpolitik, die sich aus der sexualökonomi-
schen Forschung ergibt, ist eine Bejahung der gesunden Sexualität
aller Menschen, auch der Kinder und Jugendlichen, aber eine Dul-
23
J. H. Leunbach
dung der kranken Sexualität. Die Perversen sollen nicht bestraft,
ihre Krankheit aber mittels Prophylaxe bekämpft werden.
Die Aufgabe, die wir bei der Gründung der WLSR vor uns sahen,
war ein Versuch, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft für eine
Milderung der Sexualnot mittels öffentlicher Aufklärung, praktischer
Hilfe und Beeinflussung der Gesetzgebung zu kämpfen. Der Versuch
ist nicht gelungen. Die ökonomische Krise und die faschistische Re-
aktion haben die Sexualnot der Massen aufs schärfste gesteigert. Die
Weltliga ist nicht nur hilflos geblieben, sondern ist selbst durch die
Reaktion zerschmettert worden.
Ich glaube nicht mehr daran, dass eine bürgerliche Sexualreform-
bewegung die Sexualnot der Massen auch nur mildern kann. Ausser-
dem bin ich durch das Studium der Sexualökonomie und durch per-
sönliche charakteranalytische Erfahrungen zu der Überzeugung ge-
kommen, dass nicht die Hirschfeldsche, sondern die Freudsche Erklä-
rung der Perversionen die richtigere ist.
Die beste Erklärung der Perversionen scheint mir die Sexualöko-
nomie zu geben. Die ethnologischen Forschungen Malinowskis zeigen,
dass es Völker gibt, die in einer urkommunistischen matriarchali-
schen Gesellschaft leben. Die Sexualität der Kinder wird nicht un-
terdrückt, sondern bejaht. Unter diesen Menschen hat Malinowski
weder Neurotiker noch Perverse gefunden, während Nachbarvölker,
bei denen die patriarchalische Familienordnung und die Sexualunter-
drückung der Kinder herrschten, die Perversionen sehr wohl kannten.
Erst in einer klassenlosen Gesellschaft wird es möglich werden,
die Sexualunterdrückung aufzuheben und dadurch Neurosen und
Perversionen vorzubeugen. Der Kampf für eine solche Prophylaxe
muss also Hand in Hand mit der proletarischen Revolution gehen.
Die Erklärung der Perversionen als angeborenen Konstitutions-
anomalien führt dagegen zu keinerlei revolutionären Konsequenzen.
Kein Sexualwissenschaftler wird leugnen, dass es erbliche und an-
geborene Formen der Intersexualität gibt, wie z. B. Hermaphroditen.
Wie es unter den Tieren »Intersexen« nach dem Goldschmidtschen
Schema gibt, kann man bestimmt diese Formen auch unter den Men-
schen finden. Die Frage ist, ob nicht die angeborenen Fälle unter
den Invertierten eine kleine Minderheit darstellen, während die grosse
Mehrzahl auf Grund eines kindlichen Erlebens ihre Inversion erwor-
ben hat.
Die angeborene Anlage spielt wohl auch eine andere Rolle, indem
z. B. die einen vielleicht mehr oral, die anderen mehr anal veranlagt
sind, die einen mehr zur Neurose, die anderen mehr zur Perversion
neigen. Bei manchen Menschen genügt vielleicht eine verhältnis-
mässig milde Sexualunterdrückung, um die Entwicklung zur Geni-
talität zu verhindern und sie in die Perversion oder die Neurose zu
treiben, während bei anderen nur ein sehr starkes und frühes Erleben
die gesunde Sexualentwicklung stören kann.
24
1
Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik
Wie sehr die eine oder die andere Ursaciie massgebend ist, kann
erst entschieden werden, wenn einmal in einer glüclclicheren Zukunft
die eine Hauptursache: die Sexualunterdrückung der Kinder, beseitigt
sein wird.
Eine grosse Schwierigkeit für die Erklärung der Homosexualität
aus einer angeborenen Anlage bietet die Tatsache, dass unter be-
stimten äusseren Umständen (Kasernierung, Gefängnis und andere
Umstände, die eine langdauernde Isolierung gleichgeschlechtlicher Men-
schen hervorrufen), die Zahl derjenigen Menschen, die sich homo-
sexuell betätigen, sehr schnell wächst. Die Theorie der angeborenen
Anlagen kann diese Schwierigkeit nicht sehr gut bewältigen. Wenn
aber bei den meisten Menschen in der frühesten Kindheit durch Er-
ziehung, Versagung oder ähnliches Erleben die homosexuellen Ten-
denzen hervorgerufen und fixiert werden, kann man sich leicht den-
ken, dass diese Tendenzen, die sonst bei normalen heterosexuellen
Menschen unbewusst in der Verdrängung bleiben, unter dafür gün-
stigen äusseren Umständen bewusst werden und sich durchsetzen.
Ich war früher der Ansicht, dass es für das praktische Verhalten
des Staates der Homosexualität gegenüber keine grosse Rolle spielt,
ob man die eine oder die andere Erklärung annimmt. Jedenfalls er-
schien es mir unberechtigt, die Homosexuellen zu verfolgen und zu
bestrafen. Die neuen Gesetze der Sowjet-Union mit ihrer Bestrafung
der Homosexuellen sprechen entscheidend gegen meine frühere Mei-
nung, dass es gleichgültig sei, welche Theorie angenommen wird.
Die Grosse Sowjet-Enzyklopädie vertritt die Hirschfeldschen Theo-
rien und nichtsdestoweniger haben die Sowjet-Behörden die Strafe
gegen die Homosexuellen eingeführt. Sie glauben offenbar nicht an
die angeborenen Anlagen und hoffen mittels Bestrafung die gefürch-
tete Verbreitung der Homosexualität verhindern zu können.
Wäre die sexualökonomische Erklärung der Perversionen in der
SU massgebend gewesen, hätten solche Gesetze nie entstehen können.
Trotz allem will ich behaupten, dass die WLSR nicht vergebens
existiert und gearbeitet hat. Viele Personen haben sich auf unseren
Kongressen kennen gelernt und haben Anregungen für ihre Arbeit
erhalten. Für diejenigen, die in ihrem eigenen Land praktische Arbeit
für Sexualaufklärung und Geburtenregelung leisten, ist es sehr wich-
tig, eine internationale wissenschaftliche Organisation im Rücken
zu haben. Trotzdem die internationale Tätigkeit der WLSR zurzeit
gelähmt ist, arbeiten mehrere nationale Sektionen weiter und verbrei-
ten sexuelle Aufklärung.
Die WLSR hat sozusagen den Boden vorbereitet für neue sexual-
politische Organisationen, die auch aus den Fehlern der WLSR vieles
lernen können.
25
Jonny
Zur massenpsychologischen Wirkung
des Kriegsfilms
Von Jonny
Während nationalistische Filme wie der Prokriegsfilm »Morgen-
rot« bewusst und konsequent an die nationalistischen Ehrgefühle der
Masse appellieren, gibt es einen Typus des Kriegsfilms, der sich
dadurch auszeichnet, dass er zwar als Antikriegsfilm auftritt, seine
Prokriegstendenzen aber in einer sehr raffinierten und wirksamen
Form durchsetzt. Ein derartiger Film ist der amerikanische Flieger-
film »Fliegerehre«.
Die Reaktion des Publikums auf diesen Film ist, wie Stichproben
zeigen, die tiefer Erschütterung. Die meisten politisch Geschulten,
die ich befragte, empfanden ihn als Anfikriegsfilm, während politisch
Indifferente in ihm keinerlei Tendenz für oder gegen den Krieg sehen,
ihn aber doch als sehr bewegenden Film empfanden. Wir wollen in
einer kurzen Schilderung seines Inhalts zu erfassen versuchen, wie
seine massenpsychologische Wirkung ist.
Inhalt: Eine amerikanische Fliegerdivision, die eben ihre Ausbildung
genoss, wird an die französische Front berufen. Ein junger Flieger
wird nicht abgeordnet, weil er zwar guter Schütze, aber schlechter
Pilot ist. In einem Wutanfall schlägt er seinen Konkurrenten, einen
guten Piloten, mit einem Faustschlag zu Boden. Der gute Pilot, der
der Darsteller von Jerry Joung, einem am 14. Juni 1918 gefallenen
berühmten Flieger ist, gelangt an der Front rasch zu grossen Ehren
und Auszeichnungen; er schiesst 18 Flugzeuge herunter. Doch je
mehr Erfolg er hat, desto mehr beginnt er, die Sinnlosigkeit des
Krieges einzusehen und sich dagegen aufzulehnen. Er verliert einen
Beobachter nach dem anderen, ist erschüttert von der Jugend und
der kindlichen Begeisterung der nachkommenden Piloten; dem
Zusammenbruch nahe, bekommt er Urlaub und geht nach London.
Dort wird er in einer Gesellschaft von einer jungen, sehr hübschen
Frau den ganzen Abend lang beobachtet; sie allein begreift, was in
ihm vorgeht. Während die anderen Gäste sich ihrer Kriegserlebnisse
26
Zur massenpsychologischen Wirkung des Kriegsfilms
rühmen, schleicht er sich, von dem Treiben angeekelt, aus dem Saal.
Die Frau folgt ihm, steigt zu ihm ins Auto, und sie verbringt, nachdem
er ihr sein Leid schildert und das Grauen des Krieges, bei ihm
die Nacht. Ins Feld zurückgekehrt, schiesst er den berühmtesten
deutschen Flieger, seinen gefährlichsten Gegner, ab und entdeckt,
dass er ein zwanzigjähriger Junge ist. Während ihn seine Kameraden
bei einem Fest als grossen Sieger feiern, hält er zum Erstaunen aller
Anwesenden eine Brandrede gegen den Krieg, wirft das Glas wutent-
brannt gegen die Wand, begibt sich in sein Zimmer und erschiesst
sich dort. Kurze Zeit vorher war sein Rivale, der gute Schütze, eben-
falls zu seiner Truppe eingerückt. Dieser ist ein kriegseifriger
Kämpfer, von nationaler Ehre erfüllt. Er entdeckt, dass sich Jerry
Young erschossen hat, und versucht die Ehre der Truppe dadurch
zu retten, dass er den Helden ins Bett legt und ihn als schlafend
herrichtet. Der Oberst kommt ins Zimmer, entschuldigt das
Verhalten mit Besoffenheit und geht beim Anblick des scheinbar
Schlafenden beruhigt fort. Vor Sonnenaufgang lädt der ehrgeizige
Kämpfer den Helden auf die Schulter, setzt ihn in ein Flugzeug auf
den Führersitz und steigt auf. Mit dem Maschinengewehr durch-
löchert er die Flügel, um einen Kampf vorzutäuschen, und durch-
bohrt die Leiche am Kopf mit einer Reihe von Schüssen. Damit
schliesst der Film.
Dieser Film hatte auf viele marxistisch geschulte Besucher wie
gesagt, den Eindruck eines besonders guten Antikriegsfilms gemacht.
In der Rolle, die dem Hauptdarsteller zugedacht ist, kommt ja diese
Tendenz sehr deutlich, man möchte sagen, allzu deutlich zum Aus-
druck. Eine stichprobenhafte Überprüfung der Reaktion des Zu-
schauers auf den Film weist hier jedoch nach, dass er zwar sehr er-
schüttert ist, aber sich eingestehen muss, den Krieg, wie er in diesem
Film dargestellt ist, nicht als zu verhinderndes Grauen, sondern als
ein tragisches, schicksalhaftes Ereignis erlebt zu haben. Alle leiden
darunter, der Tod wütet, aber niemand ist daran schuld, und niemand
kann angeklagt werden. Man könnte nun sagen, dies sei darauf zu-
rückzuführen, dass der wirtschaftspolitische Hintergrund des Krieges
in dem Film gar nicht sichtbar, ja im Gegenteil sehr geschickt verhüllt
wird. Nun weiss das zwar der geschulte Marxist, aber der durch-
schnittliche Zuschauer weiss nicht nur nichts davon, mehr, er würde
den Marxisten nicht begreifen, wenn dieser ihm, hätte er die Möglich-
keit dazu, auseinandersetzen würde, was an gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Konflikten zum Krieg treibt. Er verstünde es des-
halb nicht, weil ihm der Gefühlsgehalt der Kriegsatmosphäre und der
sie wiedergebende Film ungleich näher stehen als das komplizierte Ge-
dankengut der gesellschaftswissenschaftlichen Kriegsbetrachtung. Je-
nes erlebt er unmittelbar, dieses muss er sich erst mühsam aneignen.
Es ist zwar selbstverständlich, dass in der Antikriegsarbeit die Profit-
interessen der Rüstungsindustrie, die nationalen Interessen der ver-
27
Jonny
schiedenen Mächtegruppen usw. klar und jedem verständlich heraus-
gearbeitet werden müssen. Doch die Geschichte und die Erfahrung
lehren, dass dies allein lange nicht genügt. Man kann sich leicht über-
zeugen, dass es zwar reichlich Schilderungen des Kriegsgrauens und
Antikriegspropaganda gibt, die mit der Angst vor dem Kriege bei den
künftigen Kriegsopfern rechnen; aber ebenso eindeutig nachweisbar
ist es, dass diese Literatur nur die schon ohnedies gegen den Krieg
Eingestellten erreicht; an die breite Masse kommt sie deshalb gar
nicht heran, weil diese kein Bedürfnis hat, diese Art von Antikriegs-
literatur zu konsumieren. Es hat zwar zweifellos jeder Angst vor Ver-
letzung und Tod, aber es steht fest, dass es Kräfte gibt, die diese
Angst weitaus übertönen und unwirksam machen. Wir müssen es end-
lich zustande bringen, von unseren Gegnern zu lernen. Ihre unbe-
wusst raffinierte Methode, Ideologie und Gefühle zu produzieren, die
ihren Interessen entsprechen, ist mit den bisherigen Methoden' der
Antikriegspropaganda nicht aus dem Sattel zu heben. Es ist auch gar
nicht leicht und wäre nur schädlich, wollte man eine entsprechende
Methode der Gegenpropaganda ausklügeln. Ohne ein gründliches, die
massenpsychologische Atmosphäre erfassendes Wissen wird sich
keine wirksame ideologische Gegenkraft ergeben.
Dagegen ist es sicher, dass eine genaue Kenntnis der Psychologie
(nicht der Kriegs Veranstalter ), sonc/ern der Kriegsbegeisterung bei den
Kriegsteilnehmern bezw. ihrer Stumpfheit gegenüber diesem gesell-
schaftlichen Ereignis, die entsprechenden Methoden von selbst zur
Entwicklung bringen wird. Hier ist in allererster Linie die Kenntnis
der im Hintergrunde wirksamen Methoden der Rüstungsindustrie
notwendig. Um zum Film zurückzukehren. Überblicken wir zunächst
diejenigen Elemente des Films, die an die Antikriegsgesinnung des
Publikums appellieren, um dann desto sicherer, weil nunmehr das
Vertrauen gewonnen ist, die Gefühlsansätze der so merkwürdigen
Kriegsbegeisterung einzupflanzen. Wir dürfen vorausschicken, dass
es sich nicht um den angeblichen biologischen Sadismus der Men-
schen, der den Krieg verursachen soll, handelt. Diese Anschauungen
vertritt bekanntlich Freud in seiner Diskussion mit Einstein. Der
Sadismus spielt nur bei einem bestimmten, zahlenmässg höchst un-
bedeutenden Teil der Krieger eine Rolle.
In dem genannten Film weckt zunächst die Ergriffenheit des hel-
dischen Fliegers über die Opfer, die der Krieg fordert, die Ergriffen-
heit der Masse. Sie kann sich zunächst in der Ergriffenheit mit ihm
einsfühlen, aber indem sie dies tut, hat sie, ob sie es wollte oder nicht,
gleichzeitig eine Identifizierung mit dem Kriegs/ieWe/i vollzogen, der
in aller Mund ist, Auszeichnungen über Auszeichnungen bekommt,
dem sich sogar eine wunderschöne Frau gegen alle Moral, Sitte und
Anstand, ohne den verhassten Eheschein, für eine Nacht hingibt.
Wir haben hier also massenpsychologisch zwei einander entgegenge-
setzt wirkende Kräfte am Werke: Diejenigen, die die Kriegsbegeiste-
28
Zur massenpsychologischen Wirkung des Kriegsfilms
rung, besser ihre unbewussten, psychischen Voraussetzungen im
Zuschauer schaffen, stützen sich auf weit mächtigere Gefühlsströmun-
gen in der Masse als das gleichzeitig bejahte Mitleid mit den Kriegs-
opfern. Welcher Handelsangestellte, welcher in Not und Elend, in
den Tiefen der Gesellschaft lebende Proletarierjunge, welcher in dem
Tageslauf lebende Beamte hat nicht, bewusst oder unbewusst, ein
eigenes Traumreich aufgebaut, das ihn zum grossen Helden m'acht,
ihn in den Mund aller Menschen und in die Spalten der Zeitungen
bringt, welcher Mensch aus der Masse der sexuell Verelendeten hat
sich nicht nach einer Nacht in den Armen einer schönen Frau ge-
sehnt? Die Ergriffenheit vermengt sich demnach mit tiefsten und
geheimsten Wünschen des durchschnittlichen Massenmitgliedes nach
Glück und Ruhm, nicht nach dem Kriege. Der Krieg ist nicht das
eigentliche Ziel, sondern bloss ein Mittel für die Phantasie des Mas-
senindividuums, aus einer engen, bedrückenden, an Lust so armen
Umgebung herauszukommen. Es ist selbstverständlich, dass sich in
jedem die Heldenphantasie auf Grund des versagten Lebensglücks zu
entwickeln beginnt. Das Heldentum wird für den Durchschnittsmen-
schen die verhüllte Erfüllung vom Glück auf Erden. Und die blut-
jungen Krieger, die kriegsbegeistert, weil unerfahren dem erfahrenen
Helden gegenübertreten, sind massenpsychologisch geschickte Dar-
stellungen aller dieser kriegsunerfahrenen, sehnsüchtigen Proletarier-
und Bauernjungen, die einmal in ganz der gleichen Weise vor dem
abgemüdeten alten Kriegskämpfer im Feld stehen werden. Hier darf
die Sexualsymbolik keineswegs vernachlässigt werden. Im Weltkriege
1914 — 1918 war es das Ideal fast jedes Jungen, »nicht zur Infanterie,
sondern zur Kavallerie« zu kommen. Das schien ehrenvoller, aber in
Wirklichkeit konnte man dadurch den Mädels besser gefallen: Die
Rolle des Kavalleristen von vor 20 Jahren hat gegenwärtig der Flieger
übernommen. Fliegen und Reiten sind typische, gefühlsmässig äus-
serst betonte Potenzsymbole.
Die Brandrede des Helden gegen den Krieg, die dann folgt, ist
bereits emgebettet in eine Atmosphäre voll von anziehenden Aben-
teuern. Nicht nur folgt diese Scene der Liebeszene, sondern auck
jenen filmisch glänzenden Darstellungen der Luftkämpfe, in denen
der Held in spannender und erregender Weise immer wieder Feinde
abschiesst, und einem unheimlich aussehenden deutschen Flieger,
der ihn immer verfolgt, entkommt, bis er schliesslich auch ihn ab-
schiesst. Diese Darstellungen der Luftkämpfe wirken wie Schlacht-
szenen im allgemeinen, auf dem gleichen massenpsychologischen Bo-
den, der die Masse des Volkes zu den amerikanischen Baseball-Spielen.
Fussball-Wettkämpfen, Boxkämpfen etc. zu Millionen hintreibfi).
1) In Kopenhagen liegt das Versammlungslokal, das die kommunistische Partei
zu Ihren Veranstaltungen benutzt, dicht neben dem Fussballplatz. Am 7 No-
vember 1933 konnte man beobachten - es war knapp nach der Machtergrei-
fung der Faschisten in Deutschland — wie spärlich die Massen waren, die den
29
Jonny
Unser Film versucht seine Antikriegstendenz dadurch zu bewei-
sen, dass er die Leichen der gefallenen Beobachter und Flieger zeigt.
Doch die Reaktion des Publikums darauf ist nicht Grauen, nicht
Angst, nicht der Entschluss, dies nicht mehr zuzulassen, sondern nur
eine merkwürdige, sich identifizierende Ergriffenheit mit dem Opfer
eines tragischen Geschicks. Diese ergriffene Identifizierung beruht,
wie man in Analysen solcher Tatbestände nachweisen kann, auf einer
typischen, frühkindlichen Situation: Die Übermacht der Eltern, der
Lehrer, der älteren Geschwister über das eigene ohnmächtige kindli-
che Ich wird nach einer kurzen Zeit kräftiger Rebellion nur mehr
als ein unausweichliches, notwendiges, nicht-bekämpfbares Geschick
erlebt. Aus der ursprünglichen Rebellion und Aggression gegen den
Unterdrücker wurde unter dem Einflüsse der Erziehung Mitleid mit
sich selbst, geduldige Fügung in das Schicksal, ja fast Glückseligkeit
bei Opferbringung. Das ist nicht ursprünglicher, biologischer Wille
zum Leiden, wie die Kirche behauptet, sondern ein sonderbares Ge-
misch aus Selbstbemitleidung, tragischem Fühlen, ergriffenem Leiden,
weltumspannendem Schmerz; ihre Grundlage ist die zur Ohnmacht
führende Zerbrechung der eigenen Aggression. Jene Gefühle, die der
Kriegstragik zu Grunde liegen, sind noch durchaus nicht genügend
verstanden und bedürfen genauester Analyse^).
Wir haben bisher gesehen, wie selbst diejenigen spärlichen Ele-
mente des Films, die seine Antikriegsgesinnung darstellen sollen, ge-
rade das Gegenteil davon mit sich bringen. Darüber hinaus ist aber
der Film voll von raffiniert wirkenden versteckten Prokriegstenden-
zen, die teils direkt den Krieg in rosigem Lichte darstellen, teils mäch-
tigste unbewusste Ängste und Schuldgefühle in seinem Sinne mobili-
sieren. So sind z. B. die Gesänge der Flieger, die Lustigkeit des Kriegs-
lagers, die mit dem tragischen Fronterleben abwechselt (charakteri-
stisch für alle Kriegsfilme), direkte Verherrlichungen des Kriegerle-
bens, das derart in Gegensatz gebracht wird zum öden Leben in der
abgeschlossenen Familie. Doch selbst die gegen den Krieg wirkenden
Verhaltungsweisen des Helden werden durch viel kräftigere Szenen
gleichzeitig entwertet. So z. B. stösst seine Rede gegen den Krieg auf
völliges Unverständnis bei allen seinen Kameraden. Sein Eifer wird
1) Der hartnäckige Kampf der Sexualökonomie gegen die Freud'sche Todestrieb-
lehre rechtfertigt sich nicht nur klinisch. Gibt es nämlich, wie Freud be-
hauptet, einen biologischen Willen zu Leid und Tod, dann ist jeder Kampf
gegen die Pest des Krieges sinnlos. Entstammt dagegen, wie die Sexualöko-
nomie behauptet, die sonderbare Kriegsatmosphäre der Schicksalsergriffenheit
und -ergebenheit des sexuell verkrüppelten Menschen, ist sie also auf die
reaktionäre Sexualpolitik zurückzuführen, dann ist der Kampf gegen sie
aussichtsreich.
Saal verliessen, in dem die russische Revolution gefeiert wurde; und wie
überwältigend der Massenstrom von Menschen, der zur selben Stunde eine
Boxveranstaltung verliess. Hier, nur hier, liegt derzeit das eigentliche Pro-
blem der sozialen Revolution.
30
Zur tnassenpsychologischen Wirkung des Kriegslilms
mit Betrunkenheit erklärt. Dass man aus Schauder über das Kriegs-
grauen Selbstmord begehen kann, wird als unmöglich und unheldisch
hingestellt. Sein kriegsbegeisterter Rivale will seine Ehre retten, in-
dem er der Welt ein »Ende durch heldischen Kampf« vormacht. Doch
ist die zweifello gefühlsmässig stärkst betonte Szene des Films die,
in der der kriegsbegeisterte Flieger dem Selbstmörder hoch in den
Lüften — an sein Steuerrad gesetzt — mit dem Maschinengewehr den
Kopf durchlöchert: Hinrichtung sogar nach dem Tode! Ein Held
darf vor den Augen der Welt nicht anders als für das Vaterland ge-
storben sein. Ein Held darf nicht erkennen, was der Krieg ist, und
sich dann selbst das Leben nehmen. Ein einfacher Soldat wäre auf
eine derartige Brandrede gegen den Krieg, wie der Held sie hielt,
sofort standrechtlich erschossen worden. Mit dem Helden durfte dies
nicht geschehen, wollte man nicht die ganze bisherige Wirkung des
Films zerstören. Die Identifizierung mit ihm durfte nicht derart zu-
nichtegemacht werden. Und deshalb greift der Film zu einer Hinrich-
tungsmethode, die auf das Unbewusste des mit dem Helden identifi-
zierten Zuschauers die allergrösste Macht üben* muss : Man fähri seine
Leiche zur Erschiessung, und dies, nicht ohne Grund, durch den
kriegsbegeisterten Rivalen. Es ist, als ob der Film dem heldisch iden-
tifizierten Zuschauer sagen wollte: »Dir droht die Erschiessung,
wenn du deine Pflicht nicht erfüllst! Auch wenn du der grösste Held
bist! Sogar nach dem Tode!«
So unvollständig und lückenhaft die gegebene Darstellung auch
ist, sie konnte zeigen, in welcher Weise selbst Antikriegs-Filme die
Funktion erfüllen, für den Krieg zu werben. Wichtig ist nicht, dass
sie dies tun, sondern in welcher raffinierten Art und Weise.
Praktischer Vorschlag: Filme gemeinsam besuchen! Frage:
Worin ist der Film reaktionär, wo weckt er Gefühle in den Zu-
schauern, die man für die soziale Revolution braucht? Resultate an
die Zeitschrift senden!
31
Walter Roner
Die Funktion der „objektiven Wertwelt'
Von Walter Roner
r1)
Der grundlegende Gegensatz, in dessen Grenzen sich das philoso-
phische und religiöse Denken des Patriarchats bewegt, ist der Gegen-
satz von sexuell-sinnlich und asexuell-geistig. Er erscheint in der Kul-
turgeschichte in den verschiedensten Abwandlungen, die sämtlich auf
den einen genannten Nenner zurückzuführen sind. In den Fesseln
dieser Antithese fing sich die gesamte Moralwissenschaft, ohne sich
je aus ihnen befreien zu können, weil sie die Entstehung dieses Ge-
gensatzes selbst nie begriff; und sie konnte ihn nicht begreifen, weil
sie zur gesellschaftlich diktierten Aufrechterhaltung dieser Gegen-
überstellung eine absolute Welt der Werte a priori annehmen musste.
Solchermassen war ihr der Weg zur Erkenntnis der Relativität dieser
Antithese versperrt. Wir nennen einige typische Varianten bezw.
Abkömmlinge des Gegensatzes von »sexuell« und »geistig«: tierisch
— menschlich, irdisch — überirdisch, fleischlich — geistig, teuflisch —
göttlich, böse — gut, vergängliche Lust — ewige Seligkeit, Sünde
— Reinheit, ketzerisch — gläubig etc.
Die nationalsozialistische Ideologie von der »Rassereinheit« ist der
konsequenteste Ausdruck dieser Gegenüberstellung. (Vgl. Kap. »Die
Rassetheorie« in »Massenpsychologie des Fascismus«, II. Auflage.)
Tritt bei einem Wissenschaftler die Neigung, »gut« und »böse« im
Sinne von »geistig« und »sexuell« gegenüberzustellen, besonders her-
vor, wie bei Prinzhorn, Kluges, Heidegger u. a., ist im gleichen Masse
mit ihrer faschistischen Gleichschaltung zu rechnen.
Die drängenden Aufgaben der proletarischen Bewegung verbieten
eine umfangreiche und ins einzelne gehende Kritik dieser Eigenschaft
der bürgerlichen Philosophie vom Standpunkt der Sexualökonomie,
vorläufig wenigstens. Doch ist eine kurze und prinzipielle Klärung
1) Dieser Aufsatz wurde im Juli 1932 bald nach dem Erscheinen der »sexual-
pädagogischen Probleme« abgefasst. Seiner Publikation standen die »Rück-
sichten« aller in Frage kommenden Zeitschriften entgegen. Er ist heute ak-
tueller denn je und gilt im übrigen auch als Kritik aller ähnlich gearteten
Anschauungen.
32
i
Die Funktion der .objektiven Werfwelt'
einiger Fragen unerlässlich, die unseren wissenschaftlichen Betrieb
betreffen, weil er den Zugang zu theoretischen sowohl wie prakti-
schen Fragen der Kulturpolitik im allgemeinen wie der Sexualpolitik
im besonderen versperrt. Will man die gesellschaftliche Bedeutung
und Funktion einer Wissenschaft, wie etwa der Jugendkunde, richtig
einschätzen, so muss man vor allem die weltanschaulichen Positionen
der bürgerlichen Wissenschaft aus den wissenschaftlichen Aussagen,
mit denen sie sich zu ihrem Schaden verflechten, herausschälen. Auch
auf diesem Gebiete zeigt sich, dass die politische Reaktion die Gefah-
ren, die sie von jeder neuen Entdeckung her bedrohen, viel rascher
und gründlicher erfasst als die revolutionäre Wissenschaft den Nutzen
der gleichen Entdeckung für die Umwälzung des gesellschaftlichen
Seins.
Die Psychoanalyse Freuds schuf die naturwissenschaftlichen
Grundlagen einer Erziehung der Jugend nach den Gesetzen der Sexual-
ökonomie, zu deren Begründung sie die wichtigste Voraussetzung war.
Im Lager der Psychoanalyse wurde nun die gesellschaftliche Bedeu-
tung ihrer Entdeckungen nicht nur nicht erkannt, sondern vielmehr
in einer Weise ausgewertet, die ihre tatsächlichen Konsequenzen ver-
dunkelte; das bedeutet, dass sich die Vertreter der Psychoanalyse
dieser Konsequenzen an keiner Stelle bewusst wurden, dass z. B. der
offizielle Pädagoge der Psychoanalyse, Bernfeld, an keiner Stelle die
Frage des Geschlechtsverkehrs der Jugend auch nur wissenschaftlich
untersuchte. Es ist nun ebenso interessant wie für unsere Aufgaben
wesentlich, dass der rechte Flügel der bürgerlichen Pädagogik, ver-
treten durch das »Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik«
(Leiter: J. P. Steffes, Berlin) die von uns vertretene Auffassung über
die soziologischen Konsequenzen der Psychoanalyse bis zu einem
hohen Grade durchschaute und die Lehre Freuds gerade aus diesem
Grunde ablehnt.
Diese Arbeit leistete vornehmlich der Wiener Psychologe und Phi-
losoph Rudolf Allers, Mitherausgeber der »Zeitschrift für ärztliche
Psychotherapie«, Mitglied der katholischen Leogesellschaft in einem
ausführlichen Artikel »Sexualpsychologie als Voraussetzung einer
Sexualpädagogik«^) .
Dieser Artikel gewinnt für uns seine Bedeutung aus drei Gründen:
erstens durch die Ablehnung der Psychoanalyse, zweitens dadurch,
dass ein überzeugter Katholik sie vertritt, drittens, weil er uns zeigt,
wie die idealistische Fragestellung nach absoluten, überindividuellen
Werten mit der Beurteilung der Sexualität und der Stellungnahme
zu ihr nicht nur zusammenhäfigt, sondern vielmehr zentral durch sie
bestimmt ist.
1) In »Sexuälpädagogische Probleme«, Sammelbuch, herausgegeben im Auftrage
des »Deutschen Instituts für wissenschaftliche Paedagogik«. (Münster-Verlag
1931).
33
Walfer Röner
Im Vorwort schreibt der Leiter des Instituts, Stef fes :
»Die sexuelle Zone hat im Rahmen der menschlichen Entfaltung eine unge-
heure Bedeutung: physiologisch ■• — vital im Dienste der Reife, der Fortpflanzung
und Eugenik; psychologisch im Sinne von wesenhafter Ergänzung, Ausweitung
und Vertiefung; soziologisch als Grundlage des familiären, volkhaften und staat-
lichen Aufbaus; metaphysisch als Ab- und Nachglanz des göttlichen Schöpfer-
tums; religiös als naturhafte Voraussetzung der Existenz und der Ausbreitung des
Reiches Gottes. So erweist sich das sexuelle Moment eingeordnet in ein grosses
Sinn- und Zwecksystem, das ihm selbst eine erhabene Weihe verleiht.«
Hier finden wir metaphysische Auffassung zugleich mit finaler
Beurteilung, sowie die typischen reaktionären Zuordnungen der
Sexualität zum »Wesen« der Person und des Staates.
Die politische Reaktion erkennt die soziologische Bedeutung der
Sexualität im Negativ, d. h. die Rolle der Sexualverneinung. Schon
in der Vorrede ist die Wertordnung in Beziehung zur Sexualerziehung
gebracht :
»Das Bestreben des Erziehers wird dahingehen müssen, der heutigen
Jugend in vollem Verständnis und in voller Würdigung ihrer Eigenart (was gesagt
werden muss, damit die Jugend nicht davonrennt. W. R.) eine christlich religiöse,
weltanschaulich geordnete und gefestigte Werteordnung zu vermitteln, die sie
befähigt, im Drange der Erlebnisse und Bedürfnisse nie die gesunde Orientie-
rungslinie zu verlieren, und die sie von innen heraus charakterhaft so festlegt,
dass sie von den Stürmen der sexualen Welt nicht entwurzelt wird, sondern zur
vollen Verwirklichung der Werte kommt, die in der Geschlechtsbestimmung des
Menschen der Möglichkeit nach ruhen.«
Das klingt wie eine Ansammlung von sinnleeren Phrasen, aber
wie immer: Hinter jeder Phrase steckt eine Wirklichkeit; der Hüter
der Werteordnung (lies: bürgerlichen Werteordnung) weiss, was er
will. Hören wir nun Allers.
Allers ist nicht nur in diesem Aufsatz, sondern auch sonst Anhän-
ger der Individualpsychologie, so dass wir die Möglichkeit haben wer-
den, auch die Motive zu fassen, die die Individualpsychologie in die
Welt beförderten.
Allers beginnt mit einer Kritik der kausalen Betrachtungsweise
der Psychoanalyse; ihr Fehler sei, das Studium der sexuellen Ent-
wicklung mit der des Kleinkindes zu beginnen und von hier Aussagen
zu machen. Denn:
»Alle Entwicklung erhält ihren Sinn erst von dem Ziel her, auf das hin sie
sich bewegt, und kann auch nur von dort her begriffen werden.« (S. 5.)
Der »Wille zur Macht« und sein Widerpart, der »Wille zur
Gemeinschaft«, die die Ziele der Entwicklung bestimmen, wären »ab-
solut ursprüngliche letzte Gegebenheiten und nicht weiter auf noch
anderes zurückführbar«. Darin sieht Alters, wie Adler und alle seine
Schüler, auch wenn sie Kommunisten sind, den grundlegenden Unter-
schied gegenüber den Auffassungen der Freudschen Psychoanalyse.
Denn dieser bedeute die »Libido« eine absolut letzte Potenz im Mensch-
wesen, aus der erst durch besondere Umwandlung so etwas wie Wille
zur Gemeinschaft hervorgehen könne.
34
Die Funkfion der „objektiven Wertwelf*
»Daher verschliesst sich für die Psychoanalyse jede Möglichkeit, Sexualität
oder Sexualverhalten als »Ausdruck« für etwas anderes (also z. B. für den Willen
zur Macht. W. R.), Ursprünglicheres anzusehen. Die hierin gelegene Verkehrung
des Sachverhaltes hat ihre Wurzeln in der biologistisch-natüralistischen (letzten
Endes sogar rein materialistischen) Grundanschauung, welche die Psychoanalyse
von je vorausgesetzt hat und ausserhalb derer ihr System schlechthin gar nicht
aufrechterhalten werden kann.«
Der Metaphysiker und gläubige Christ Allers macht also der Psy-
choanalyse den Vorwurf der »sogar rein materialistischen« Grund-
anschauung. Und er hat von seinem Standpunkt aus mit diesem Vor-
wurf durchaus recht. Der Materialismus der Psychoanalyse verträgt
sich in keiner Weise mit irgend einer Metaphysik, auch nicht mit dem
Finalismus der Individualpsychologie und ihrer Weltanschauung. Der
Kern des psychoanalytischen Materialismus ist gerade ihre Libido-
theorie, d. h. die Lehre von der psychischen Energie und der energe-
tischen Funktion der seelischen Prozesse. Im Gegensatz dazu postu-
liert der Individualpsychologe Allers, dass die Sexualität als Sonderfall
des mitmenschlichen Verhaltens überhaupt angesehen werde, denn
nur so werde verständlich.
»dass eine den Seinsgesetzlichkeiten gemässe Einstellung zur mitmenschlichen
Umwelt, welche wir als Gemeinschaft bezeichnen, Voraussetzung einer ,normalen'^
Einstellung auch im Sexualen sei; d. h. Abwegigkeiten in der Sexualentwicklunff
und dem bereits entwickelten Sexualverhalten gründen letztlich in unrchtiger Ge-
staltung der Einstellung zum Mitmenschen überhaupt.«
Allers geht als konsequenter metaphysischer Finalist vom Ziel aus
und beurteilt von da her die Abweichungen. Aber woher stammt die
»unrichtige Gestaltung der Einstellung zum Mitmenschen«? Die
Grundentdeckung der Psychoanalyse ist, dass diese unrichtige Ein-
stellung zum Mitmenschen (notabene: zu welchem?) zusammen mit
der bereits entwickelten »Abwegigkeit« im Sexualverhalten selbst Fol-
gen einer vorausgegangenen Störung durch bestimmte Einflüsse der
Erziehung sind, die zu untersuchen gerade Allers am eifrigsten meidet
und meiden muss. Und dies aus folgendem Grunde.
Die Individualpsychologie war in dem Augenblicke, wo sie sich
mit ihrem Finalismus in Gegensatz zum Freudschen Kausalismus,
mit ihrem Anspruch, eine Weltanschauung zu sein, in Gegensatz zur
Wissenschaft überhaupt brachte, die erste metaphysische Entartung:
der Psychoanalyse, wenn wir von Jungs »kollektivem und überindivi-
duellem« Unbewussten absehen. Wenn der Wille zur Gemeinschaft
umfassender und primärer ist als die Libido, wenn diese bloss ein
Ausdruck von jenem ist, so hat man seine »sozialistische« Gesinnung
»bewiesen«, ohne die Metaphysik abstreifen zu müssen. Warum
strebt der Säugling, wenn er nach Nahrung schreit, »über sich hin-
aus«? Nach Adler und Allers, weil er einen Willen zur Gemeinschaft
hat, wenn er nicht gar dadurch seiner Mutter seine Macht zeigea
und sie dadurch beherrschen will. Nicht weil Veränderungen im
elektrolytischen Gleichgewicht der Gewebe seiner Eingeweide eine
35
n
Walter Roner
Spannung erzeugen, die ihn einfach schreien lässt, ohne dass er eine
Ahnung davon hat, dass eine Mutter und eine Aussenwelt überhaupt
existieren. Dass das Kind zur Mutter erst viel später psychisch hin-
strebt, wenn sich die Erfahrung wiederholt hat, dass eine bestimmte
Person durch eine bestimmte lustbringende Handlung die Spannung
und Unlust beseitigt, dass sich erst auf dieser Grundlage ein Wille zur
Gemeinschaft überhaupt herausbilden kann, ist für einen Gläubigen
ein Buch mit sieben Siegeln, denn wo käme dann der Anspruch nach
»objektiven Werten« zu seinem Recht, die in Widerspruch stehen zu
den natürlichen Bedürfnissen. Wir werden sofort beweisen, dass die
Forderung der Existenz einer absoluten Wertwelt, jenseits der Natur
und Erfahrung, im Kopfe des Metaphysikers vor aller Untersuchung
von Tatbeständen vorhanden ist und zu ihrer Aufrechterhaltung die
Verleugnung gerade derjenigen Fakten benötigt, deren klare Erkennt-
nis ihr den Boden untergräbt. Die ganze Argumentation dieser »Wis-
senschaftler« geht nach dem Satze vor, dass nicht sein darf, was
nicht sein soll. Hier der Beweis.
Allers begibt sich, man muss sagen, mutig (weil völlig ahnungslos)
auf das Gebiet des Widerspruchs von »Wert« und »Gesundheit«. Wir
danken ihm dafür, dass er klar ausspricht, was seine Gesinnungs-
genossen meist in Phrasen verschleiern. Was ist also im Bereich des
Sexuellen normal und was abnormal?
»So wie es biologisch gesehen durchaus ,normar sein könnte, dass der Mensch
irgendeines ihn lockenden Gegenstandes ohne Rücksicht auf Eigentumsbegriff und
Rechtssatzung sich bemächtige — tatsächlich sehen wir ja solches beim Klein-
kind — so könnte manches sexuale Verhalten in der Ebene des Biologischen völ-
lig .normal' sein, dennoch aber abwegig in einer anderen.« (1. c. S. 16.)
In welcher anderen Ebene?
Allers fragt selbst:
»Mit welchem Rechte darf man dann von .Abnormem' oder .Abwegigem'
überhaupt sprechen? Dies ist nun eine Frage zunächst der Sexualethik und nicht
der Sexualpsychologie.«
Kommen wir noch nicht mit der weiteren Frage, mit welchem
Recht und von wem dazu berufen die Sexualethik über abnorm und
normal Aussagen machen darf, was die Inhalte ihrer Aussagen be-
stimmt. Allers meint ganz ernstlich, der objektive Geist diktiere die
Normengebung, wir meinen dagegen, dass durchaus irdische Geister
dies besorgen. Hören wir weiter:
' »Hier zeigt sich eben deutlich an, dass Psychologie sozusagen sich nicht selbs.t
zu genügen vermöge (vermöge!), dass sie, um Fragen ihres eigensten Problemen-
kreises zu beantworten, ja sogar schon um sie richtig formulieren zu können, sich
selbst transzendieren und an ausserpsychologischen Tatbeständen, nämlich solchen
einer Wertlehre, zu orientieren gezwungen sei.«
Wir sind ebenfalls der Ansicht,dass die wissenschaftlichen Er-
kenntnisse an Weltanschauungen gebunden sind, fragt sich nur an
welche. An eine derartige, die zur Erkenntnis der Welt hindrängt,
36
i
Die Funktion der .objektiven Wertwelt"
oder an eine, die von ihr wegführt. Für uns ist die wirkliche Erkennt-
nis frei von weltanschaulichen Stellungnahmen, die Konsequenz aus
der Erkenntnis dagegen durchaus weltanschauliche Praxis. Für Al-
lers und seine Gesinnungsgenossen muss die Wissenschaft von vor-
neherein, um überhaupt Aussagen über die Wirklichkeit zu machen,
sich »transzendieren«, an einer Wertlehre orientieren, das heisst auf
der Hut sein, ob der objektive Geist dazu auch ja sagt. Als dialekti-
sche Materialisten stellen wir einfach fest, dass die Onanie des Klein-
kindes natürlich gegeben ist, dann werten wir diese Feststellung zur
Kritik der Religion und zur wissenschaftlichen Fundierung der Erzie-
hung (gleich Weltanschauungsfrage) aus. Allers sieht sich erst ängst-
lich um, was sein objektiver Geist zu der blossen Feststellung der
Onanie der Kinder als einer sexuellen Handlung sagen könnte, und
danach trifft er seine Feststellungen. Und das nennt sich Wissen-
schaft, nicht ohne sich darauf etwas einzubilden. Es lohnt, diesen ob-
jektiven Geist näher zu betrachten.
»Umgekehrt aber zeigt sich — und das ist höchst beachtlich — , dass Er-
scheinungen, die wohl, rein biologisch angesehen, nicht als , abnorme', zumindest
nicht in dem Sinne einer vitalen Schädigung aufzufassen sind, sich aber, gemes-
sen an der Wertordnung als fehlgerichtete erweisen, dennoch in einem tiefen
Sinne .ungesunde' heissen müssen, soferne sich in ihnen Grundhaltungen der Per-
son ausdrücken oder kundgeben, welche danach angetan sind, den Menschen mit
der ihn umgebenden Wirklichkeit in Konflikt zu bringen und daher Leiden zu
stiften.« (1. c. S. 17.)
»Zeigt sich, was m. E. bei hinlänglich vorgetriebener Analyse unabweislich
aufdringlich wird, dass bestimmte Weisen sexualen Verhaltens, ohne im bloss
Vitalen schädigend zu wirken, Anzeichen einer tiefergreifenden Zerfallenheit des
Menschen mit der Wirklichkeit seien, so rechtfertigt sich damit zugleich, allen
auf bloss biologischen Erwägungen und Erfahrungen gegründeten Einreden zum
Trotz, die .moralische' Verurteilung eben dieser Verhaltungsweisen. In der Tat
bedeuten die sog. Perversionen als solche keine vitale Schädigung; sie sind
für die Lebensdauer und Lebenstüchtigkeit, so ferne unter Leben nur die Erhal-
tung des biologischen Funktionierens begriffen wird, völlig irrelevant. Wenn von
ihnen trotzdem in einer Sexualpathologie gehandelt wird, so bestätigt sich darin
eben der Gedanke, dass diese Erscheinungen doch letzten Endes .pathologische',
nicht aber in der Ebene des Vitalen, sondern in der höheren des Personalen ge-
nannt zu werden verdienen.« (1. c. S. 17.)
Was zu beweisen war! Die höheren Werte fordern die Verurtei-
lung der sexuell abnormalen Erscheinungen, also sind sie überhaupt
keine vitalen Schädigungen »als solche biologisch und für die Gesund-
heit belanglos«, auch wenn der gestörte Libidohaushalt die Arbeits-
fähigkeit zerstört, der Melancholiker sich umbringt, der Sadist Mäd-
chen mordet. Also ist die Onanie des Kleinkindes und der Geschlechts-
verkehr des Jugendlichen abnormal, denn dadurch entstehen tatsäch-
lich Konflikte mit der Wirklichkeit. Also ist die Angstneurose einer
sexuell unbefriedigten Frau oder ihr Versuch, sich der Krankheit
durch ausserehelichen oder vorehelichen Verkehr zu entledigen, ein
»abwegiges Verhalten«, denn es bringt Konflikte mit dem Gatten,' den
Eltern und den objektiven Werten. Das ist logisch, nicht im Scherz
gemeint, sondern ganz ernst, wie sofort ersichtlich werden wird.
37
Walter Roner
Die Vertreter der objektiven Werte, nach denen sich das Handeln
und Beurteilen von Normalem und Abnormalem zu richten haben,
leugnen ja im allgemeinen, um es sich leichter zu machen, die biologi-
schen Tatsachen, wie etwa die sexuelle Bedürftigkeit des Kleinkindes.
Allers ist nicht so plump, er weicht der Schwierigkeit — anders aus,
in einer Weise, die uns die Beweisführung über die gesellschaftliche
Funktion der logischen Deduktionen überhaupt möglich macht. Er
gibt den Widerspruch zwischen biologischem und ethischem Soll zu.
Er gibt auch zu, dass dieser Widerspruch pathologisches zeitigt, auch
wenn er sich wieder aus dieser Feststellung herauszuwinden versucht.
Die Frage ist nur, welche Gründe dieser Widerspruch selbst hat. Der
Christ und jeder ihm Geistesverwandte fordert vom Standpunkt eines
abstrakten, ewigen, überirdischen Soll. Der liberale Bürger, der ma-
terialistische Forscher, der gleichzeitig weltanschaulich Metaphysiker
ist, glaubt in seinen wissenschaftlichen Aussagen anethisch zu sein.
Der dialegtische Materialist bekennt sich zu einer anderen Werteord-
nung. Dasselbe in Grün? Wir werden das sofort entscheiden können.
Der dialektische Materalist bekennt sich zu einer anderen Werteord-
spruchs zwischen »Wert« und biologischem Anspruch, indem er zu-
nächst mit der Voraussetzung des Metaphysikers bricht, dass die
Wertwelt wissenschaftlicher Untersuchung unzugänglich sei. Er
rückt sie selbst in den Bereich dieser Welt. Um beim Beispiel von
Allers zu bleiben: Er fragt etwa nach der Herkunft des Eigentums-
begriffes und entdeckt das Klassenverhältnis, die Ausbeutung und
andere schöne Diiige mehr. Will der abstrakte Ethiker nicht ein
geistiges Luder sein, so muss er entweder sofort seinen »Wert« um-
stellen, oder aber er muss, um weder vor sich selbst als geistiger
Akrobat zu erscheinen noch auch seine bürgerliche Position zu
riskieren, die Gründe des Wertes: »Eigentum ist unantastbar«,
verleugnen. Indem der dialektische Materialist aber die Werteordnung
selbst ableitet, verändert sich sofort auch die Stellung zum Wider-
spruch; dann ergibt sich eine »Werteordnung«, die das Ethische,
Seinsollende in der Beseitigung des Widerspruchs zwischem biolo-
gischem und ethischem Anspruch erblickt. Muss der Metaphysiker,
um seine Wertwelt zu halten, das wissenschaftliche Erkennen
einschränken, so ist für den Marxisten die Heranziehung aller mög-
lichen Erkenntnis zur Festigung und Durchsetzung seiner Wertwelt
unerlässlich. Wissenschaftliche Weltanschauung steht gegen die
Weltanschauung der objektiven Werte. Jene hebt die objektive
Wertwelt selbst auf, die sich gerade auf dem aufbaut, was sie ver-
urteilt, die nur dann und nur solange bestehen kann, wie ihre Grund-
lage anerkannt ist. Da die abstrakte Wertwelt ihre eigene Herkunft,
soll sie sich nicht selbst aufgeben, nicht zu erkennen vermag, muss
sie sich ins Transzendente versetzen. Indem wir ihre irdische Her-
kunft erkennen, gelangen wir zur Kritik ihrer Basis, dadurch zur
revolutionären Praxis auf jedem Gebiet. Die Aufhebung der gesell-
38
Die Funktion der „objektiven Wertwelt.
schaftlichen Voraussetzungen des Eigentums-»Wertes« hebt auch den
Widerspruch zwischen biologischem Soll, d. h. Nahrungsbeschaffung,
und ethischem Soll, d. h. Privateigentum an Produktionsmitteln, auf.
Was vor dem Erkennen der irdischen Zusammenhänge als objektiver
Wert positiv erlebt wurde, verfällt mit solchem Erkennen automatisch
negativer Bewertung. Es ist sehr bemerkenswert, dass im sexuellen
Leben nur das Bürgertum den Widerspruch zwischen biologischem
und ethischem Soll anerkennt und zugunsten des letzteren entscheidet,
das Proletariat hingegen, soweit es nicht verbürgerlicht ist, das
ethische mit dem biologischen Soll in eines vereinigt, also den Wider-
spruch aufgehoben hat, ideologisch in seinem Fühlen, praktisch durch
Vollzug der sozialen Revolution, die die abstrakt-metaphysische
Wertwelt aufhebt.
Wir kennen aber unsere Metaphysiker. Sie werden jetzt un-
abweislich mit der Logik kommen und sagen: Es liesse sich wohl
die Entstehung eines Urteils »gut« oder »böse« genetisch ableiten,
nicht aber der Wert des Tatbestandes »gut« oder »böse« selbst. Also
wir könnten wohl feststellen, warum der eine den puberilen Ge-
schlechtsverkehr als gut oder böse anerkennt, nicht aber vermögen
wir den Wert etwa »Keuschheit« selbst abzuleiten. Denn des Soll
liesse sich niemals aus dem Sein ableiten; wenn Keuschheit schädlich
ist, so folge daraus noch nicht, ob man keusch leben solle oder nicht.
Sehr schön diese Logik. Abstrakt logisch ist das absolut richtig;
nur interessiert uns hier die Logik gar nicht, vielmehr interessiert
uns das Festhalten unserer pädagogischen Lehrer und Professoren
an der logischen Deduktion. Indem sie nämlich diese Trennung von
Sein und Soll, von Theorie und Praxis herstellen, entheben sie sich
der Notwendigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen, können sie in voller
Unschuld fortfahren, auf der einen Seite festzustellen, dass Keusch-
heit gesundheitschädlich sei und auf der anderen Seite daran fest-
zuhalten, dass die Keuschheit ein objektiver, weder beweisbarer noch
widerlegbarer Wert sei. Denn die Wertwelt berührt doch bekanntlich
die Seinswelt nicht, sie sei ihr disparat, selbst transzendent, also folgt
aus der wissenschaftlichen Feststellung nichts. Man kann ruhig
weiter Wissenschaftler genannt werden und riskiert doch nicht einen
Konflikt mit der Wirklichkeit, etwa den Verlust der Dozentur.
Mit dieser Logik, dieser Trennung von Sein und Soll, steht es
aber in Wirklichkeit so:
a. Abstrakt logisch: Wenn ich einem Kranken klarmache, dass
sein Leiden nur auf seine keusche Lebensweise zurückzuführen ist,
so kann er »logisch« ebensowohl den Schluss ziehen, weiter keusch
zu leben, wie auch den, die Keuschheit aufzugeben. Abstrakt logisch
bestimmt das Sein das Soll nicht.
b. Der Wirklichkeit entsprechend, also nach dem Gesetz der dia-
lektischen Einheit von Sein und Soll, Theorie und Praxis, wird der
gleiche Kranke, sobald er den Zusammenhang zwischen Leiden und
39
Walter Roner
Askese wirklich erkannt hat, schleunigst nur einen Schluss ziehen,
nämlich den, die Keuschheit aufzugeben, was zu verhindern eben die
Aufgabe des logischen Denkens und der Urteile nach den Gesetzen
der objektiven Wertwelt ist.
In der Wirklichkeit entscheidet nämlich die Wertwelt nur solange,
wie man den genannten Zusammenhang nicht herstellt; ist dies ein-
mal geschehen, so entscheidet das Lust-Unlust-Prinzip eindeutig.
Auf dem Gebiete der Sexualität hebt also wie auf allen anderen Ge-
bieten der dialektische Materialismus den Gegensatz von Wissen-
schaft und Ethik und damit auch die heutige Funktion der Logik in
der Wissenschaft auf.
Wir haben nun zu beweisen, dass die Welt der Werte, Tugenden
etc. die Welt der Asexualität ist; dass somit jedes Denken, das eine
absolute Wertwelt fordert, die Verneinung des Sexuellen zur wich-
tigsten Voraussetzung hat. Was ist nun »Tugend« als einer der
wesentlichsten objektiven Werte? Es sei schwer, meint Allers, dies
zu bestimmen, aber immerhin treffen sich »in der menschlichen
Person ... die vier Seinsbereiche: belebte Natur, seelische Gemein-
schaft, objektiver Geist und jenes transzendente Reich, das wir
vielleicht das der Grade nennen können.« Als Wesen der Tugend
sei die »Reinheit« anzusprechen und »Unberührtheit ist wohl das
naheliegendste Synonym (^ dasselbe meinender zweiter Ausdruck),
das sich bei der Frage nach dem Wesen der Reinheit einstellt.«
Obwohl nun »die sexuale Reinheit weder Weg zu, noch Voraussetzung
für Reinheit überhaupt zu sein vermag,« »steckt (dennoch) in solcher
Überwertung des Sexualen und solcher Einschränkung des Begriffs
von Reinheit gerade auf Sexuales ein richtiger und berichtigter
Ansatz.«
Wert und Unwert sind demnach geformt und gedacht nach
asexuellem bezw. sexuellem Leben. Die Erkenntnis des Lust-Unlust-
Prinzipes stürzt diese Welt der Werte erstens durch den Nach-
weis, dass die Bejahung solcher Werte selbst Derivat bewusst zwar
negierter, unbewusst jedoch umsomehr bejahter Lust ist, zweitens
durch die praktische Konsequenz, die aus dem Lust-Unlust-Prinzip
folgt: die Einheit von Denken und Handeln. Wir betonen diesen
Gegensatz von abstrakt-logischem und dialektisch-materialistischem
Standpunkt, weil wir sehen, dass der abstrakte Logiker die Psycho-
analyse, wie Allers, als 'hedonistische' Lehre ablehnen muss. Denn
aus der Erkenntnis der Gesetze des Lust-Unlust-Prinzips folgt nach
der materialistischen Dialektik im Einklang mit dem Leben die
Bejahung der Lust. Diese Feststellung ist keineswegs eingeschränkt
durch die Anerkennung des Realitätsprinzips, denn dieses verneint
nicht die Lust, sondern enthält bloss die Beachtung der Möglichkeit,
das Lustgewinn aufgeschoben werden muss, wenn bestimmte Seins-
verhältnisse solches fordern. Da aber das Realitätsprinzip des Pa-
triarchats ein anderes ist als das der Welt ohne Privateigentum an
40
Die Funktion der .objektiven Wertwelt"
Produktionsmitteln, verringert sich auch der Gegensatz von Reali-
tätsprinzip und Lustprinzip.
Um ein konkretes Beispiel zu nehmen. Für den Jugendlichen der
bürgerlichen Gesellschaft besteht eine strenge Kluft zwischen seinem
puberil-genitalen Lustprinzip und der realen Forderung der Gesell-
schaft, die Befriedigung der Genitalität bis zur Ehe aufzuschieben.
Für die sozialistische Gesellschaft fällt dieses Realitätsprinzip weg,
weil sie kein Interesse an der Ehe hat und daher der Jugend keine
Einschränkung mehr auferlegt. Da aber unsere Freunde, die Logiker,
die Erscheinungen von der Wertwelt her beurteilen, muss ihnen das
Wesen der Pubertät folgerichtig nicht als sexuelle Reifung, sondern
als Periode der »Ichfindung« erscheinen, und sie haben sogar re-
lativ Recht.
Was ist nach ihrer Meinung die Reifung?
»Wenden wir diese Anscliauungsweise nun auf das Sexualverhalten Pubeszie-
render an, so ist an erster Stelle zu sagen, dass es ein Irrtum sei, wenn man in
der sexualen Reifung das Wesen oder auch nur das hauptsächlichste Moment der
Pubertät erblicken wollte. Das Wesen dieser Entwicklungsvorgänge muss viel-
mehr dahin bestimmt werden, dass sich darin die Konstituierung der zunächst
definitiven Persongestaltung und des Charakters, die Auseinandersetzung zwi-
schen dem Ich und dem Nicht-Ich und damit die Klärung der Stellung des Ichs
zum und im Nicht-Ich vollziehe: Ichfindung ist das Wesen der puberalen Um-
gestaltungen.«
In einfaches Deutsch übersetzt heisst das, dass der Jugendliche
in der Geschlechtsreife sein Ich nach den Forderungen der heutigen
Gesellschaft orientieren muss, dass er gegen seine sexuellen Stre-
bungen einen mächtigen Wall von abwehrenden Haltungen auf-
zubauen hat, wodurch sein Charakter in der Tat seine Prägung
erfährt. Die »Ichfindung« unserer gottgläubigen Wissenschaftler und
Pädagogen besteht in einem Versuch des Sichzurechtfindens mit der
Welt, in einem Sich-ihr-Anpassen. Das gilt besonders für das klein-
bürgerliche Mädchen, gilt aber nur halb für das proletarische. Es
ist klar: Beurteilt man die Pubertät vom Standpunkt der Wertwelt,
so besteht sie tatsächlich in der Bildung der Sexualabwehr. Da aber
die Wertwelt absolut gedacht ist, so muss es auch das eigentliche
Wesen der Pubertät in diesem Sinne sein. Auf keinen Fall darf aber
von diesem Standpunkt aus weitergeforscht werden, welches die
Mechanismen dieser Ichfindung sind, wogegen sie sich richten, warum
die Ichfindung gerade in diesem Alter, nicht früher und nicht später
erfolgt. ' .
Die psychoanalytische Forschung hat zwar die Sexualität und die
Abwehrmechanismen entdeckt, aber sie vermied es eifrig, das Wesen
der heutigen Pubertät aus dem Widerspruch zwischen biologischen
und gesellschaftlichen Seinsbedingungen abzuleiten, sie verschob und
verschleierte die Frage, indem sie das Wesen der Pubertät in einem
Wiedererwachen des Ödipuskomplexes erblickte, ohne zu fragen,
warum der Ödipuskomplex gerade in einem bestimmten Alter
41
Walter Roner
wieder erwacht, und welche äusseren Bedingungen es sind, die die
puberile Regression zu kindlichen Sexualpositionen bedingen.
Wir dürfen diese Auseinandersetzung nicht abschliessen, ohne uns
noch ein Musterbeispiel individualpsychologischer plus wertweltlicher
Argumentation anzuhören, die sich aus dem Bestreben, der analyti-
schen Sexualtheorie auszuweichen, mit Notwendigkeit ergibt.
Zunächst stellt Allers fest, dass der Mann in seinem Sexualver-
halten periodisches Schwanken zwischen eruptiver Sexualität und
Mangel jeden Verlangens zeige, während sich die Frau dauernd auf
einer gewissen Höhe der Erotisierung halte, dafür aber weder Höhe-
punkte noch Nullpunkte aufweise. (Eine typisch bürgerliche, höchst
vage Behauptung, die nur dadurch möglich wird, dass stnan den
Unterschied in der gesellschaftlichen Beurteilung und Behandlung der ,
männlichen und der weiblichen Sexualität nicht beachtet.) Auf der
anderen Seite wird für das Mädchen in den Entwicklungsjahren eine
sexuelle Phase überhaupt geleugnet. Allers merkt den Widerspruch
und fragt selbst:
»Wie ist es nun zu verstehen, dass gerade bei der Entwicklung der weiblichen
Sexualität, welcher solcher Auffassung zufolge für die Gesamtperson eine viel
grössere Bedeutung und intimere Nähe zu deren Wesensliern eignen soll, dies
manifeste Hervortreten eindeutig sexualer Phasen nicht die Norm darstelle?«
Armes Mitglied der Leogesellschaft und des ärztlichen Vereins für
Psychotherapie zugleich! Unsere Frauen sind sexuell dauernd erregt
und dürfen doch, nach den Gesetzen der Wertwelt, keine sexuelle
Entwicklung in der Pubertät durchinachen ! Halt, man ist ja auch
Individualpsychologe, das trifft sich ausgezeichnet:
»Der hier gemeinte, nicht gerade leicht ausdrüclibare Zusammenhang liesse
sich vielleicht in etwa folgender Weise darlegen: Bedeutet Erotik in der Tat bei
der Frau eine ,kernnähere' Schichte, als dies für den Mann zutrifft, für den diese
ganze Sphäre mehr peripheren Charakter besitzt, lebt gewissermassen die Frau
von je schon irgendwie im Erotischen so bedarf sie, um ihres eigentlichen
Wesens in der spezifischen Ausgestaltung als sexuales und in der spezifischen
Hinordnung auf das andere Geschlecht inne zu werden manifesten sexuellen
Erlebens in weit geringerem Masse, als dies für den Mann der Fall sein muss.
Dessen, so könnte man sagen, man ja immer schon zutiefst inne ist, braucht man
sich nicht erst zu vergewissern. Nur wer seiner Stellung innerlich nicht sicher ist,
sucht sich die Bestätigung von aussen; das ,Spieglein an der Wand' befragt die
Königin nur, weil sie ihre Stellung als die , Schönste im ganzen Land' notwendig
als unaufhörlich gefährdet weiss.«
Wie vorteilhaft ist es doch, die Sexualität als Ausdruck des
Willens zur Macht zu erkennen! Demnach hat der Mann seine
sexuellen Eruptionen dann, wenn er sich seiner selbst nicht ganz
sicher ist, um sichs zu beweisen, indem er sich auf den andern
»hinordnet«; und seine sexuellen Nullpunkte hat er dann, wenn er
im Selbstbewusstsein schwelgt. Die Frau dagegen ist ihrer Sexualität
so gewiss, dass sie sichs nicht erst durch sexuelles Erleben zu be-
weisen braucht. Und auf ähnlichen Grundlagen versuchen sogar
42
Die Funktion der „objektiven Wertwelt.
manche Pädagogen, die der revolutionären Partei angehören (wie
etwa Salkind), die sexuelle Erziehung der Zukunft aufzubauen.
Demnach werden wir im proletarischen Zukuhftsstaat unserer Sexu-
alität so gewiss sein, dass wir es nicht notwendig haben werden, sie
zu erleben, wodurch es gelungen sein wird, den Teufel mit Beelzebub
auszutreiben und das sexuelle und ökonomische Leben des Patri-
archats wieder herzustellen: die Asexualiiät. Da man aber gleich-
zeitig »Dialektiker« ist, hat man bewiesen, was zu beweisen war, man
ist sexuell und nicht sexuell zugleich. Wie sich aber die Wertwelt
dazu verhalten wird, ist noch ungewiss. Vielleicht kehrt sie zufolge
solcher »Sexualpädagogik« als »Negation der Negation« auf »höherer«
Ebene wieder.
WILHELM REICH
CHARAKTERANALYSE
TE C H N I K U ND G RU N DLAGEN
FÜR STUDIERENDE UND PRAKTIZIERENDE ANALYTIKER
Oktav, 288 Seiten. In Leinen Kr. 12.80. Geheftet Kr. 11.25
■i^^H^HBHHB^H Aus dem Vorwort: ^^■■^■■■■■■i
Die technisch-therapeutischen Ausführungen und die dynamisch-öko-
nomischen Auffassungen des Charakters als Gesamtformation entstammen
überwiegend den reichlichen Erfahrungen und Diskussionen im Wiener
»Seminar für psychoanalytische Therapie« am obengenannten Institut, das
ich sechs Jahre hindurch unter tätiger Mithilfe einer Reihe arbeitsfreudiger
junger Kollegen leitete. Ich muss bitten, auch jetzt weder Vollkommenheit
in der Darstellung der aufgeworfenen Probleme noch Vollständigkeit ihrer
Lösung zu erwarten. Wir sind auch heute wie vor neun Jahren von einer
umfassenden, systematischen psychoanalytischen Charakterologie noch weit
entfernt. Ich glaube nur, mit dieser Schrift die Entfernung um ein er-
hebliches Stück zu verringern.
Verlag für Sexualpolitik Kopenhagen, Postbox 827
Anna Hartmann
Kleinbürgerlicher Individualismus
Von Anna Hartmann
Der kleinbürgerliche Individualismus — das ist der Individualismus in einer
ideologie, die über einer ökonomisch ungesicherten Existenz krampfhaft festge-
halten wird. Es ist eine Ideologie der Illusionen. Zu Grunde liegt die Illusion von
einer Unabhängigkeit der Person, die Illusion von einem individuellen Schicksal.
Eine der grössten Illusionen ist das Übersehen des Eingeordnetseins in den grossen,
objektiven Geschichtsprozess.
Denn der grosse Prozess — das ist die Geschichte der Menschenmassen.
Aber sich zur Masse zugehörig zu bekennen, das hiesse zum Herdentier herab-
sinken, das hiesse haltlos in der millionenköpfigen Menge zu schwimmen. Nein
— da bewahren einen die Illusionen und die Angst davor. »Selbst ist der Mann«.
»Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«. Man erlebt den grossen, objektiven
Prozess nur subjektiv und hält ihn für allerpersönlichstes Schicksal. Das ist
der kleinbürgerliche Nimbus der Persönlichkeit. Das ist die Kluft aus Angst und
Hass, die von der grossen Masse trennt, überhaupt von jedem Kollektiv. In emem
Kollektiv wollen und müssen Menschen gleichberechtigt miteinander leben, die
ihre Persönlichkeiten aneinander entwickeln und anpassen. Niemand gibt dann
seine Persönlichkeit auf, aber was aufgegeben werden muss, ist der kiem-
bürgerliche Nimbus.
Aber wo bildet sich diese Haltung aus, die Haltung des individualistischen,
unpolitischen Kleinbürgers? Wo setzt sie sich so in ihm fest? Er nimmt sie
in sich auf, erlernt sie in der kleinbürgerlichen Familie, im abgeschlossenen und
trauten Heim. »My Home is my Castle«. Man zieht sich zurück hinter Mauern.
Jenseits das feindliche Leben, diesseits das traute Heim. Wieder eine Illusion,
denn gerade im trauten Heim, im Schosse der Familie nimmt die Autorität und
Unterwürfigkeit, befehlen dürfen und gehorchen müssen, nimmt die Abkapselung
eines jeden gegen jeden andern ihren Anfang. Es ist die Einschränkung der
Lebendigkeit, die die Familie zustande bringt, indem sie ihre Funktion ausübt,
die Sexualität einzuschränken und zu unterdrücken. Die bürgerliche Ideologie
gestattet die Sexualität bei Erwachsenen nur als Mittel zur Fortpflanzung.
Kindern ist Sexualität überhaupt abgesprochen und versagt.
Die Negierung, also die Verdrängung der Sexualität ist aber nicht ein ein-
maliger Anstoss, und dann verfliegen die sexuellen Wünsche in irgendwelche
Nebelfernen, sondern die Verdrängungen müssen immer aufs Neue gesichert
werden. Denn »wer einmal Blut geleckt hat«, der will nicht wieder in die
Fesseln zurück. Zwar wird es gefordert, dass man die sexuellen Wünsche und
Neugierden verdrängen muss, aber es wird nicht gesagt, wie man das zu tun
habe. Das sind eben die Kämpfe, die »jeder mit sich selbst abmachen muss«.
Da hat denn jeder so »seine eigenen Probleme«. Und wo und wie jeden ein-
zelnen die Versagungen treffen, da lernt man »leiden ohne zu klagen«. Da kommt
denn »ein Unglück nie allein«. Denn die Hemmung der Sexualität hemmt den
Rhythmus der ganzen Persönlichkeit.
Hier tritt mit eiserner Strenge der liebe Gott in Funktion, der Registrator
aller Versuchungen, der bei jedem alles sieht. »Es ist nichts so fein gesponnen,
es kommt doch ans Licht der Sonnen«.
44
Kleinbürgerlicher Individualismus
Hier werden der Forschungslust Dämme gebaut, denn »man braucht ja auch
nicht überall seine Nase hereinzustecken«, und brav und scheinheilig sagt man
von sich — »was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss«. Es tritt fast offen
zutage, denn was würde mich heiss machen, wüsste ich es, gäbe ich es zu? Es
können nur die sexuellen Begierden sein. Um ihnen nicht doch zu erliegen, muss
man sich »fest in der Hand haben«. Da muss man heldenhaft »darüberstehen«.
Und was ein richtiger Mann ist, — »ein Mann mus immer Mann bleiben« — der
hat Rein von Unrein unterscheiden gelernt. Er ist »der Reine, dem alles rein ist«.
Neben ihm gibt es welche, die ihm nacheifern, ohne die Verdrängungen völlig zu
■ beherrschen sie sagen von sich — »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«,
aber der Reine sagt von ihnen geringschätzig — »oben hui, unten pfui«. Und weil
dem Reinen das Reinbleiben, das ruhige Gewissen, das sanfte Ruhekissen soviel
Energie kostet, darum ist ihm »Ordnung das halbe Leben«.
Hier ist es also, wo sich die Charaktereigenschaften bilden und stählen, wo
jeder allein mit sich gelbst fertig werden muss. Hier beginnt jeder, sein eigenes
Schicksal zu tragen. Hier beginnt das Gefühl des »eigenen Lebensweges«. Es ist
einfach die Tugend aus der Not.
Es ist der Kampf eines' jeden gegen das »Tier in ihm«, also gegen seine eigene
Sexualität. Es ist die Aufrechterhaltung der Verdrängungen, die die eigenen Ener-
gien absorbiert. Man kommt nicht mehr dazu, mitzuerleben mit allen andern. Man
schneidet sich von seiner eigenen Lebendigkeit und von seinem Kontakt mit allen
andern ab. Es ist der Prozess der Abkapselung. Man zieht sich auf sich selbst
zurück. »Jeder für sich, Gott für uns alle«. — »My Home is my Castle« — ich
habe mich abgekapselt. Vor mir liegt ein feindliches Leben, hinter mir ein verlorenes
Paradies. Ich lebe in einer Burg, in einem Käfig. — »Nur wer die Sehnsucht kennt,
weiss was ich leide«. Und wenn die Verdrängungen enf stehn — »es ist erreicht«
— dann ist jeder Genuss vergällt, Schuldgefühle lasten und drohen — »keine Rose
ohne Dornen« — »Behüet di' Gott, es war' so schön gewesen, behüet di' Gott, es
hat nit sollen sein«. Und dann resigniert man — »man muss sich nach der Decke
strecken« — alles wird schal — »man muss das Leben nehmen, wie es eben ist«.
Soweit die Bewusstheit über sich selbst reicht, fühlt man sich unverstanden und
vereinsamt. Und niemand versteht des andern Unverstandenheit. Denn was jeder
bei sich selbst und bei jedem andern nicht verstehen kann, ist der Wiederschein der
Versagungen und Verbote, die Wirkung der Verdrängungen, die auf allen lastet, und
die alle unbewusst zu leisten haben. Darum kann man gerade das nicht sagen, was
man »eigentlich« hat sagen wollen, denn von dem »Eigentlichen« zu sprechen, wäre,
auszudrücken, dass man sein halbes Leben begraben hat unter der Mauer der Hem-
mungen und der Angst, die vorgebaut ist vor die eigenen überstarken, weil unbefrie-
digten Bedürfnisse.
Und eigentlich — eigentlich müsste das Leben nun unerträglich sein. Aber man
schafft Ersatzbefriedigungen, man schafft Illusionen.
•Je mehr Entsagungen zu tragen sind, je schwächer die reale Wirkungsmöglich-
keit, desto stärker die Surrogate. Das Tagträumen entschädigt in der Phantasie,
was man in der Realität nicht sein kann.
Man zehrt sich in sich selbst auf. Der Kampf für und gegen die Verdrängung
hört nie auf, er ist die Tretmühle, der man nicht entrinnen kann. In diesem
Prozess, in dem sich die Charaktereigenschaften einmal gebildet haben, bilden sie
sich immer aufs neue, werden mehr und mehr ausgebaut und differenzieren sich.
Zutage tritt der sogenannte »schwierige Mensch« mit dem »reichen Innenleben«.
Sein Trost sind die Tagebücher, die er sich schreibt und die lyrischen Privatgedichte.
Und wenn er Talente hat, angeborene Talente, dann benutzt er sie dazu, um aus
seiner Einsamkeit Brücken zu schlagen zur Gesellschaft. Wenn er musikalisch ist,
dann kann er eine Rolle spielen, weil er Klavier spielen kann. Hat er Freude
an körperlicher Bewegung, kann er etwas gelten, weil er als grosser Sportsmann
Rekorde aufstellen kann. Wie es auch im einzelnen ist, die besonderen Neigungen,
die Talente und Begabungen werden gebraucht und dahin ausgebaut, dass sie
als Verkehrsmittel dienen können zwischen dem Ich und der Gesellschaft,
dieser scheinbaren Gemeinschaft, die sich aus lauter solchen unechten Kontakten
zusammenstückelt.
Man gründet Ehen, Vereine und Bünde, »damit man weiss, wohin man gehört«,
oder ganz verzweifelt — »man muss doch schliesslich irgendwohin gehören«. Aber
hinter dem Verlangen nach den Mitgliedskarten, hinter einem gemeinsamen Massen-
45
Ems» Parell
zuschauen bei Sportsspielen, hinter dem Bewusstseln versteckt liegt die wirkliche,
grosse Sehnsucht nach einer echten Zügehörigkeit zu einer echten Gememschatt.
So leben kleinbürgerliche Massen in Mietskasernen und Schrebergartchen, eng
aneinander gedrängt, jeder von jedem abhängig, jeder von jedem durch die Schranke
der Verdrängungen getrennt, mit der Illusion, jeder ein Robinson zu sein. Und ge-
rade weil jeder einzelne seine Probleme nur subjektiv als sein nur persönliches
Schicksal erlebt darum kommt jeder einzelne nicht darüber hinaus zu erkennen,
dass seine subjektiven Konflikte auch gesellschaftliche sind, hier begründet und nur
hier letzten Endes zu lösen. Aber zu erkennen, dass man von dem Leben und der
Entwicklung der Menschenmassen abhängig und darin ein- und untergeordnet ist,
würde gerade den Robinson-Nimbus zerstören. Das ist vielleicht der einzige
Trost den es gibt in dem Elend, gegen das man nicht rebellieren kann, weil man
die individualistischen Illusionen hat, die verhindern, dass man das Elend gerade dai
entdecken kann, wo es wirklich anzugreifen ist.
Ein Gespräch mii einem Frisörgehilfen
Von Ernst Parell
Trotz aller Bemühungen der Sexpol, ihre Anschauungen korrekt darzustellen,
trotz aller ihrer Versuche, durch Diskussion aller Art von Einwänden Missverständ-
nisse zu beseitigen und Auffassungen zurückzuweisen, die man ihr unterschiebt
und die sie nie vertreten hat, stösst man immer wieder in der gleichen Weise auf
Einwände die bezeugen, dass es sowohl den angeblichen Freunden wie den »kri-
tischen« Gegnern nicht darauf ankommt, zu begreifen, was sie will, sondern nur
darauf, »prinzipiell marxistisch« zu sein. In dieser Zeitschrift und in den grund-
legenden Schriften wird immer wieder betont, dass die Sexpol sich nur als einen
Teil der Arbeiterbewegung, und ihre sexualpolitische Arbeit nur als einen leiC
des sozialistischen Befreiungskampfes betrachtet. Doch man hört unausrottbar,
dass wir die Wirtschaftspolitik durch die Sexualpolitik ersetzen wollen.
Die Sexpol betont immer wieder auf klarste Weise, dass die sozialistische hohe
Politik, die den objektiven gesellschaftlichen Prozess zu verstehen und zu be-
wältigen versucht, unbedingt der Ergänzung durch massenpsychologisch richtige
politische Handhabung des kleinen alltäglichen Lebens der Masse bedarf. Sie for-
dert dass man nicht die hohe Politik, die keinen gewöhlichen Sterblichen wirklich
interessiert mit der Berücksichtigung der Bedürfnisse der Bevölkerung verhramt,
dass man also nicht von der hohen Politik zu den Bedürfnissen herabsteigt son-
dern dass die einzig mögliche Form der revolutionären Politik die Entwicklung
der Politik aus dem kleinen Alltagsleben der Masse ist. Trotzdem hören wir
immer wieder vorwurfsvoll, dass wir die »ökonomischen Faktoren« vernachlassi-
een Wir begingen bisher in der Diskussion einen ganz schweren Fehler. Wir lies-
fen'uns au? die hochgelehrten Debatten über »Basis ""d überbau«, »Ruckwirkung
auf ökonomische Basis«, »strukturelle Reproduktion des gesellschaftlichen Sy-
stems«, »das Interesse des Unternehmers an der Profitrate der Kriegsindustrie« u.
s w ein, statt unserem Grundsatz treu zu bleiben, die Diskussion von vornherein
revolutionär, d. h. allgemein verständlich zu führen. An einem Beispiel soll ge-
zeigt werden, wie ein und dasselbe sachlich richtig, aber politisch-propagandistisch
richtig bezw. falsch dargestellt sein kann.
Gespräch mit einem Frisörgehilfen über den Mehrwert
Frisörgehilf e : Facon oder Haarschneiden?
Kunde: Bitte haarschneiden, aber eckig, nicht rund.
(Pause)
F.: Was sagen Sie zu den bösen Zeiten?
K.: Ja, schlimm! Wo das wohl hinführt? ,_,_., ^
F ■ Ach die Rowdys werden doch einander die Gurgeln durchschneiden und
der Betrogene ist man auf jeden FaH, ob nun Kommunisten oder Nazisten. Die
einen sind so viel wert wie die anderen. „,...,
K.: Vielleicht haben Sie recht, ich verstehe nichts von Politik.
46
Ein Gespräch mit einem Frisörgehilfen
F.: Ich bin froh, dass ich mein Auskommen finde, und sonst will ich
Ruhe haben.
K.: Wie viel verdienen Sie eigentlich?
F.: 100 Mark im Monat.
K. : Können Sie davon leben?
F.: Es geht so recht und schlecht. Ich möchte nun gerne heiraten, und es
braucht lange, bis meine Braut und ich soviel zusammengespart haben, dass vpir
eine Wohnung mieten können. Ich arbeite schon lÖ Jahre in diesem Geschäft und
habe es noch nicht beisammen.
K. : Und wie ist Ihr Chef?
F.: Ach, sehr anständig. Manchmal etwas brummig, aber man kommt mit
ihm aus.
K.: Wie viel Kunden bedienen Sie eigentlich im Tag?
F.: Je nach dem Tag 10 bis 15. Am Sonnabend werden es mehr.
K. : Das heisst, die 15 Kunden bezahlen 15 Mark ins Geschäft. Ja, aber Sie
bekommen doch nur 3,50 Mark am Tag? Wo bleibt denn der Rest?
F.: Sie unterschätzen die Kosten unseres Geschäfts. Licht, Telefon, Versiche-
rung, Instrumente, Miete des Lokales, das frisst ja sehr viel.
K. : Es würde mich interessieren, wie viel von den 15 M. im Tag darauf
aufgeht.
F. (denkt nach) : Na, mindestens 8 M.
K. : Ja, da bleibt aber noch immer ein Rest von etwa 9 — 10 M.
F.: Ja, das Geschäft muss ja einen Uberschuss haben, denn der Chef hat
ein grosses Risiko. Z. B. wenn einmal weniger Kunden sind. Oder in schlechten
Zeiten.
K. : Bekommen Sie auch mehr, wenn das Geschäft übervoll ist?
F.: Nein, wieso? Ich bin doch fest angestellt.
K. : Ja, aber ich verstehe nicht. Sie bekommen nicht m'ehr, wenn Sie mehr
arbeiten? Aber von dem, was Sie durchschnittlich erarbeiten, behält der Chef einen
Fond für schlechte Zeiten.
F.; Ja, da haben Sie eigentlich recht.
K.: Wenn ich Sie recht verstehe, erarbeiten Sie also im Tage nach Abzug
aller Unkosten sagen wir 10 bis 12 M. und davon erhalten Sie 3 bis 3,50. Und
wenn das Geschäft dauernd schlechtgeht, dann werden Sie entlassen, haben also
von der Reserve nichts. Wofür eigentlich wird die verwendet?
F.: Nun, der Chef muss ja auch die modernen Maschinen anschaffen. Z. B.
ersetzen wir gerade jezt die Handschneidemaschinen durch die elektrischen.
K.: Welche Bedeutung hat denn das?
F. (erstaunt): Wie, Sie verstehen das nicht? Das ist doch sehr einfach!
Während ich jetzt 10 Kunden im Tage behandle, kann ich dann leicht 20 bediene»,
weil es schneller geht.
K.: Und diese zwanzig zahlen wieder eine Mark, und Sie, wie viel bekommen
Sie dann?
F. (noch erstaunter) : Na natürlich weiter meine 100 M.
K. : Entschuldigen Sie bitte meine Neugierde, ich kenne mich da gär nicht
aus und bin nur etwas erstaunt. Mit der besseren Maschine erarbeiten Sie dann
20 M. und bekommen selbst weiter immer nur 3,50. Dann wächst ja der Uber-
schuss von 8 auf etwa 13? Wo kommt das Geld hin?
F. (stutzt): Sie haben ja eigentlich recht, das ist schon eine Frage. Aber
wissen Sie, ich bin durch die Arbeit so müde, dass ich gar nicht dazu komme,
und schon froh bin, mir darüber den Kopf nicht zu zerbrechen und nur meine
Stellung zu behalten. Sie müssen nämlich wissen, dass kommende Woche zwei von
5 Gehilfen abgebaut werden. Und ich muss schauen, dass ich nicht rausfliege.
K.: Das muss ja schlimm sein, so Tag aus Tag ein zehn Stunden im Geschäft
zu stehen — und Ihr Urlaub?
F.: Ja, ich habe 14 Tage im Jahr. Dann aber gehen wieder andere auf Ur-
laub und dann muss man wieder mehr arbeiten. Und der Chef fährt nun zwei
Monate weg.
K. : Wo nimmt aber der das Geld her, so lang weg zu bleiben?
F.: Ach der, er hat ja eine Villa in Dahlem.
K. : Ja, wieso denn?
F.: No, der ist doch schon 30 Jahre Geschäftsinhaber!
47
1
Ernst Parell
K. : Ja, arbeitet er denn?
F.: Ach nein, nur gelegentlich hilft er mit. Aber es ist ein gutgehendes Ge.
Schaft.
K.: Hören Sie mal. Ich verstehe zwar nichts von diesen Dingen, aber ich
glaube, seine Villa und sein Sommerurlaub sind bezahlt von den 8 oder 13 M.,
die ■ Sie für »Geschäftsreserven« erarbeiten.
F.: Ach, das glaube ich nicht. Oder — vielleicht haben Sie recht? Das wäre
aber sehr sonderbar. Ich würde gern noch mal mit Ihnen drüber sprechen. Sie
haben so ein Stück gesunden Menschenverstand. Da kann man sich wohl fühlen.
In diesem Gespräch ist noch kein Wort über hohe Politik gefallen, aber der
Frisörgehilfe hat selbst aus seinem Leben die Theorie des Mehrwerts, der Ratio-
nalisierung und der Arbeitslosigkeit entwickelt und überdies Vertrauen zum
»Kunden« gewonnen. Man braucht ihn nicht erst darüber zu belehren, was Ra-
tionalisierung oder Ausbeutung ist, er hat es selbst geschildert. Was er nicht hat,
ist die Verknüpfung des Bewusstseins von seiner Arbeit und Mehrarbeit mit der
Villa des Unternehmers. Er hat auch keinerlei Bewusstsein von seiner Identifizie-
rung mit dem Unternehmer. Und er hat auch kein Bewusstsein von der Verknüp-
fung der hohen Politik, die er ablehnt und fürchtet, mit seinem Leben. Es ist
nun ein Leichtes, ihm dieses Bewusstsein zu bringen, weil es in dem von ihm
selbst Gebotenen und Erlebten drinsteckt und nur entwickelt werden muss. Sehen
wir uns nun aber die zwar sachlich richtige, aber psychologisch falsche Darstel-
lung der Wertlehre an.
» Der gesamten gesellschaftlich-abstrakten Arbeit steht nun das gesamte,
mit dieser Arbeit hergestellte Gebrauchswert-Quantum gegenüber. Wir können
also dieses »Gesamtprodukt« in der abstrakten Gesamtarbeit ausdrücken. Diesen
Ausdruck wollen wir den — Wert nennen
Zusammenfassend: Auch unter »Wert« einer einzelnen Ware soll nichts an-
deres verstanden werden als ein (durch den jeweiligen Stand der Produktivkräfte)
bestimmtes Quantum, das einen (in seiner Grösse wiederum durch den Stand der
Produktivkräfte bestimmten) Teil der Gesamtarbeit ausmacht.«
Stammen diese Sätze aus einem Lehrbuch der Wirtschaftsphilosophie für Dok-
torkandidaten? Nein, sie sind der Zeitschrift »Der Marxist« entnommen (De-
zember 1931), die von der marxistischen Arbeiterschule in Berlin zu Propaganda-
zwecken herausgegeben wurde. Denken wir uns unsern Frisörlehrling, der etwa
von einem eifrigen Kunden ein solches Heft in die Hand gedrückt bekommt:
»Lesen Sie das, Sie werden auch für das Verständnis Ihrer eigenen Lage etwas
daraus lernen«. Doch nach einer solchen Leseprobe wird er das Heft wahrschein-
lich kopfschüttelnd aus der Hand legen. Die Kommunisten, von denen er gehört
hat, dass sie auf Grund einer merkwürdigen, aus Moskau importierten Theorie
alles kaput machen wollen, werden ihm hoch fremder und unverständlicher ge-
worden sein.
Lassf Blusen sprechen!
»Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben
eine Welt zu gewinnen«. Stimmt. Aber warum zeigen ihnen die Marxisten immer
nur die rostigen Ketten, die sie ohnedies zur Genüge kennen, und nie die wunder-
bare Welt, für deren Gewinnung sie doch alle ihre Kräfte einsetzen sollen?
Jeder Geschäftsmann versteht seine Sache besser als unsere Sozialisten. Wenn
ein Posten Schnaps abgesetzt werden soll, dann wird ein Plakat gemalt, auf dem
sieht man nicht etwa die abgestossene Kaffeetasse vom Alltagstisch, sondern ein
lächelndes Mädel mit dem Trinkglas in der erhobenen Hand. Die Kunden denken
nicht daran, wie sauer sie ihre Groschen verdienen und wie bitter ein Kater ist;
sie denken an den Genuss, den der Alkohol verspricht. Und kaufen. Der politische
48
Lassf Blusen sprechen.
Angestellte des Geschäftsmannes, der Faschist, macht es ebenso. Er verspricht in_
leuchtenden Farben »Arbeit und Brot« und »Kraft durch Freude«, und der Hungrige
fällt auf seine Versprechungen genauso herein wie auf die Schnapsreklame.
Die Sozialisten könnten mit ihrer Planwirtschaft ohne Hintergedanken jedem
ein herrliches Leben vor Augen halten. Aber sie sind offenbar viel zu weltfremd
dazu. Bestenfalls erzählen sie etwas von Sowjet-Russland, statt von den Möglich-
keiten derjenigen Länder auszugehen, wo man nicht erst mühselig eine Fabrik nach
der anderen aufzubauen braucht. Bei uns könnte mit Leichtigkeit jedem ein Auto
gegeben werden, wenn nur die Besitzer der Autowerke mit ihrem schönsten Wagen
über die nächste Grenze befördert würden. Nach Beseitigung der Drohnen, genannt
Grosskapitalisten, kann jedermann ein Badezimmer und eine Badereise bekommen.
Diese angenehmen Aussichten müssen der Öffentlichkeit ebenso greifbar vor Augen
gestellt werden, wie es heute die Verkäufer von angeblichen Luxusgegenständen zu
machen verstehen.
Ein wichtiges Mittel ist hierbei neben dem Film und dem Plakat die illu-
strierte Zeitschrift. Die Arbeiter-Illustrierten sind fotografisch bereits auf der
Höhe, weil die führenden Künstler dem Sozialismus zu Hilfe eilen. Trotzdem
sind diese Illustrierten noch himmelweit vom Erfolg entfernt, denn sie sind oft zum
Sterben langweilig. Selbst die, welche sie kaufen, tun es vielfach mehr aus Pflicht-
gefühl als aus Neugier. Die Millionen-Heere der Leser, die eigentlich in die Front
der Drohnenfeinde gehören, denken garnicht daran, ihr Geld für langweiliges Zeug
auszugeben. »Aber die bürgerliche Presse ist doch nichts wert ! Schlimmer noch.
Sie vergiftet euch. Unsere Zeitschriften dagegen sind Kultur in Reinkultur!« Solche
Moralpauken möchten manche Redakteure der Linken am liebsten vom Stapel lassen,
aber auch sie können niemanden zur Liebe zwingen.
Beziehungsweise, sie können niemanden zum Verzicht auf die Liebe zwingen.
Denn das ist es: Die bürgerliche Presse weiss, dass in der heutigen Gesellschaft
nicht nur die Verdauungsorgane unbefriedigt bleiben. Sie weiss, dass ungezählte
Männlein und Weiblein geschlechtlich unbefriedigt herumlaufen und nach Befriedi-
gung oder Ersatzbefriedigung in irgend einer Form suchen. Mit Ersatzbefriedigung
ist ein Bombengeschäft zu machen. Das Unternehmertum bringt immer neue Reize
auf dem Markt und verdient klotzig daran. Da ist das Plakat mit dem lächelnden
Schnaps-Mädchen. Da ist der Liebesfilm mit gai-antiert glücklichem Ende. Da sind
vor allem die schönen Schauseiten der Wochenschriften mit den Frauenköpfen oder
-Beinen, je nach den Bedürfnissen des Landes. Alle machen es so. Die »Kölnische
Illustrierte«, ein sehr »gediegenes« Blatt, machte die Erfahrung, dass eine Nummer
in der Auslage hängen bleibt, wenn auf der ersten Seite kein fesches Gesicht lockt.
Scherls Magazin, streng christliches Unternehmen, bringt ständig Artikelreihen über
»das Nackte in der Kunst« oder Negerakte, wenn für den Kolonialgedanken geworben
wird.
Schulze: »Nackte Negermädchen? Geben Sie her! Der Kolonialgedanke ist mir
natürlich piepe. Hauptsache, dass es etwas zu sehen gibt.«
Scherl: »Nackte Negermädchen? Geben Sie sie ihm! Schulzens Schaulust ist
mir natürlich piepe. Hauptsache, dass er den Kolonialgedanken zu sehen bekommt.«
Scherl ist Schlau genug, um nicht zu verzichten auf die bestmögliche Wieder-
gabe rubensscher Fleischmassen, die ehemals bereits als fromme Altarbilder ihren
Zweck erfüllten.
Alle machen es so. Nur unsere Sozialistenführer nicht, weil sie stolze Nur-
Gehirn-Menschen sind und meinen, alle anderen müssten es auch sein oder schnell-
stens werden. Sie glauben offenbar, dass alle begeistert auf die Barrikade steigen
werden, nachdem ihnen schwarz auf weiss bewiesen worden ist, dass wahre Be-
friedigung erst nach der sozialistischen Revolution möglich ist. Es ist zum Davon-
laufen, und das tun die Leser denn auch.
In Frankreich scheint es in dieser Beziehung etwas besser bestellt zu sein als
anderswo, wenigstens bei den Kommunisten. Auf ihren politischen Veranstaltungen
wird getanzt und geküsst, und »Regards« bringt ab und zu einmal etwas für's Auge.
Aber welche Genüsse bieten hier auch die anderen Blätter!
Durchaus keinen Ersatz bilden die vielfach linksstehenden sogenannten Nackt-
zeitschriften, die ganz zu Unrecht als sittenverderbend angegriffen werden. Vom
Standpunkt der Masseneroberung aus betrachtet, sind diese Zeitschriften, soweit sie
nicht von gerissenen Kaufleuten geschickt aufgemacht werden, zi-emlich wertlos.
Vollständige Enthüllung wirkt auf den krankhaften Menschen unserer Gesellschafts-
ordnung eher abstossend als anziehend. Blusen sprechen oft stärker als Busen. Das
49
Julius Epstein
kennen die Aktpostkarten-Hersteller besser als die Gesetzgeber, welche allzugefähr-
liche Naturwidergabe durch Wegretuschieren gewisser Stellen verhindert sehen
möchten. Das berücksichtigten auch die alten Kirchenbilder, auf denen die Engel
eine aufreizende Mischung und Verwischung der Geschlechtsmerkmale aufweisen.
Sozialistische Bildredakteure sollten diese Wirkungen mindestens so gut kennen
und verwerten wie die Kirchenmaler und die Reklamekünstler. Stellt neben die
berückend schöne Frau am Steuer den »kleinen« Mann, der von Rechts wegen und
so bald wie möglich neben ihr Platz nehmen sollte. Schminken die Sowjet-Russin-
nen sich nicht? Verlangten die russischen Arbeiter auf dem Schriftstellerkoogress
nicht mehr Freude? Auch unsere europäischen und amerikanischen Freunde sehen
auf einem Werbeplakat ihrer Parteizeitung statt einer plattgebügelten Figur (Plakat
der »Humanite« !) lieber ein blühendes Weib. Es ist höchste Zeit, dass unsere
Werbeleiter bei der lebendigen Wirklichkeit in die Schule gehen und uns das geben,
was wii* brauchen.
Das neue Homosexuellen-Gesefz Sowjef-Russlands
Von Julius Epstein
Wir erhielten nachstehenden Beitrag, dem wir in
anbetracht der Schwere der darin angeschnittenen
Probleme die Aufnahme nicht glaubten versagen
zu können Die Redaktion.
Im Strafgesetzbuch des russischen Reichs Nikolaus I., prolongiert im Jahre
1845, lautet der § 1293: »Wer sich des naturwidrigen Vergehens der Päderastie
schuldig macht, wird zur peinlichen Strafe dritter Klasse zweiten Grades ver-
urteilt und muss sich überdem, falls er den christlichen Glauben bekennt, einer
Kirchenbusse unterziehen«. Die »peinliche Strafe dritter Klasse, zweiten Grades«
bestand aus der »Verbannung auf Ansiedlung in minder entfernte Gegenden Si-
biriens« und aus der vorherige Verabreichung von »zehn bis zwanzig Peitschen-"
hieben«.
So bestrafte das unhumane, der damaligen Zeit gemäss wissenschaftlichen
Argumenten nicht zugängliche russische Strafrecht des Zaren Nikolous I. homo-
sexuellen Verkehr, zumindest soweit er sich die Form der Päderastie gab.
Achtundfünzig Jahre nach der Prolongation dieses alten Strafrechts durch
den Zaren Nikolaus I., also im Jahre 1903 (am 22. März) gab sich das Russland
Nikolaus II. ein neues Strafrecht, den »Ugolonoje Ulozenje«. Dieses neue Straf-
gesetzbuch enthielt den § 516 folgenden Wortlauts: »Wer Päderastie verübt, wird
bestraft: mit Gefängnis nicht unter drei Monaten. Wird Päderastie verübt:
1) mit einem Minderjährigen von vierzehn bis sechzehn Jahren ohne seinen Wil-
len, oder mit seinem Willen, aber unter Missbrauch seiner Unschuld; 2) mit
einem infolge krankhafter Störung der Seelentätigkeit, oder infolge von Bewusst-
losigkeit, oder der von einem körperlichen Gebrechen oder einer Krankheit
herrührenden, mangelhaften geistigen Entwicklung notorisch der Möglichkeit die
Natur und die Bedeutung des mit ihm Vorgenommenen zu verstehen, oder seiner
Handlung Herr zu sein Beraubten; 3) mit einem der Widerstandsmöglichkeit be-
raubten ohne dessen Willen zur Päderastie, so wird der Schuldige bestraft: mit
Korrektionshaus nicht unter drei Jahren. Wer jedoch Päderastie verübt: 1) mit
einem Kind unter vierzehn Jahren; 2) mit einer in seiner Gewalt der Pflege
befindlichen Person; 3) mit einer Person, die dazu genötigt wurde, durch Gewalt
gegen die Person oder durch Androhung des Todes, einer sehr schweren oder einer
schweren Körperverletzung dem Bedrohten oder einem Mitglied seiner Familie,
falls solche Drohung beim Bedrohten die Befürchtung der Möglichkeit ihrer Ver-
wirklichung hervorrufen konnte; 4) mit einem, den der Gewalttäter zu diesem
Zweck in bewusstlosen Zustand versetzt oder zu versetzen beiträgt, wird bestraft:
mit Zwangsarbeit nicht über acht Jahren. Der Versuch ist strafbar.«
Die russische Strafrechtsreform konnte sich also des Erfolg rühmen, das
Strafminimum von lebenslänglicher oder mindestens langjähriger Verbannung und
50
Das neue Homosexuellen-Gesetz Sowjet-Russlands
Züchtigung, auf drei Monate, in erschwerenden Fällen auf drei Jahre Korrektions-
haus herabgesetzt zu haben und das Maximum in ganz besonders erschwerenden
Fällen auf Zwangsarbeit von acht Jahren !
Es ist bei Betrachtung dieses Gesetzes festzuhalten, dass, auch mit den Nor-
men einer modernen Strafrechtstheorie gemessen, alle Strafen ausser jener von
mindestens drei Monaten Gefängnis für Päderastie zwischen voll rechtsfähigen
Erwachsenen, gerecht, mindestens diskutierbar erscheinen, treffen sie doch vor
allem nicht den Täter wegen seiner homosexuellen Veranlagung, sondern wegen
des Missbrauchs seiner Gewalt über Minderjährige und Kranke, sie entsprechen
also analogen Strafen, die in allen Kulturstaaten auf heterosexuellen Geschlechts-,
verkehr unter analogen Umständen stehen.
Es blieb im Sinne moderner psychologischer Strafrechtstheorie nur der erste
Satz des § 516 zu bekämpfen, der Satz »Wer Päderastie verübt, wird bestraft mit
Gefängnis nicht unter drei Monaten«. Dieser Satz verstösst freilich gegen das
Prinzip vom Rechte über sich selbst und schützt in Wirklichkeit keinerlei Rechts-
gut. Es erübrigt sich an dieser Stelle, die Argumentation gegen dieses Gesetz
■weiter auszuführen.
Es war daher ein selbstverständlicher und keines besonderen Ruhmes werter
Akt sowjetrussischer Rechtschöpfung, dass homosexueller Verkehr jeglicher Form
an sich ebenso unverfolgt blieb, wie der heterosexuelle. Niemand hatte etwas
anderes vom bolschewistischen Strafrecht erwartet. Es warf neben vielem an-
drem auch den § 516 des zaristischen Strafgesetzbuches auf den Scheiterhaufen,
bestimmt zur Verbrennung mittelalterlichen Plunders.
Der fortschrittliche Zustand völliger Straflosigkeit homosexuellen Geschlechts-
verkehrs dauerte bis zum 7. März 1934. An diesem Tage wurde ein neues »Gesetz
über die strafrechtliche Verantwortung für Päderastie« erlassen, ein Gesetz, das
zwar humaner als das Gesetz Nikolaus 1. aus dem Jahre 1845 und früher, das aber
weit strenger als das des letzten Zaren Päderastie zwischen voll rechtsfähigen Er-
wachsenen zum Objekt der Strafjustiz macht.
Dieses Gesetz, veröffentlicht in der »Sammlung von Gesetzesbestimmungen
und Verordnungen der Arbeiter- und Bauernregierung der RSFSR« vom 25. April
1934 hat folgenden Wortlaut:
»Man ergänze § 154 des Strafgesetzes der RSFSR folgendermassen :
Geschlechtlicher Verkehr eines Mannes mit einem Mann (Päderastie) wird
mit Freiheitsentziehung von drei bis fünf Jahren bestraft.
Päderastie, die unter Anwendung von Gewalt vollzogen wurde, oder unter
Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses des Geschädigten, wird mit Freiheits-
entziehung von drei bis acht Jahren bestraft.«
Seit dem Tage des Inkrafttretens dieses ebenso unmodernen wie ungerechten,
ja mittelalterlichen Gesetzes wird also in Sowjetrussland der erwachsene Homo-
se,xuelle, der mit einem erwachsenen Partner geschlechtlich verkehrt, der also
keinerlei Interessensphäre der Sozialität verletzt, der aber, der Möglichkeit
homosexuellen Verkehrs beraubt, nur unglücklicher, keinesfalls aber zu hetero-
sexuellem Geschlechtsverkehr tauglicher wird, mit drei bis fünfjähriger Gefäng-
nishaft bestraft!
Dieses Gesetz, das nur für das Gebiet der »RSFSR« gilt, nicht für die übrigen
autonomen Sowjetrepubliken, soll im Hinblick auf zunehmende Männerbünde
innerhalb der Roten Armee, nicht ohne Billigung, ja Förderung durch Maxim
Gorki zustande gekommen sein. Dieser habe angeblich in einer Rede Front gegen
die Homosexuellen gemacht, habe die Homosexualität als typisches Symptom
faszistischer Staaten dargestellt und dergestalt einen Rückschritt ins Reich mittel-
alterlicher Behandlung sexueller Minderheiten vollzogen.
Sei dem wie ihm wolle! Der neue § 154a des sowjetrussischen Strafgesetz-
buches stellt einen tief bedauerlichen Atavismus inmitten des sonst strahlenden
Geists planetarischen Fortschritts der Sowjet-Union dar. Hoffen wir, dass er den
leuchtenden Himmel gesellschaftlichen Fortschritts, gespannt über einem Sechstel
der Erde, nicht allzu lange verdunkle !
51
J. H. Leuhbach
Magnus Hirschfeld in memoriam
geb. am 14.-5.-68; gesf. am 14.-5.-35
Soeben erhalten wir die Nachricht, dass der grosse Sexualforscher
und Sexualreformer Magnus Hirschfeld, an seinem 67. Geburtstag
in Nizza gestorben ist. Das Los der Kulturkämpfer ist in einer Zeit,
wo die Kulturreaktion ständig wächst, unendlich tragisch. Hätte
Hitlers Machtergreifung nicht im Jahre 1933, sondern um etwa 3 Jahre
später stattgefunden, hätte Hirschfeld mitten im Freundeskreis
sterben können, in seinem schönen Institut in Berlin, an dem sein
Herz mit väterlicher und mütterlicher Liebe hing. Unzählige Be-
wunderer, Schüler, Anhänger, Freunde und Patienten wären nach
Berlin gefahren, um ihrem grossen Lehrer, Berater und Arzt die
letzte Ehre zu erweisen, oder sie hätten auf andere Weise ihre Teil-
nahme und Trauer zum Ausdruck gebracht. Auch die Vertreter der
offiziellen Wissenschaft, so oft sie auch früher ungerecht gegen
Hirschfeld aufgetreten sein mögen, hätten an seinem Grab in Ehrfurcht
den Hut vor dem trotz allem bewunderten Gegner abgenommen.
Und nun ist alles völlig anders :
Hirschfeld hat erleben müssen, dass sein Lebenswerk von roher
und brutaler Hand zerschmettert wurde. Er selbst, aus dem Lande
verjagt, das er liebte, musste das bittere Los der Emigranten teilen.
Die Weltliga für Sexualreform, sein jüngstes Kind, von der er so
vieles erhofft hatte und deren Weiterbestehen seine Sorge bis zu
seinem Tode galt, ist in Auflösung begriffen und wird wahrscheinlich
bald dem Stifter ins Grab folgen. An anderer Stelle dieser Zeitschrift
habe ich eine Kritik über die Weltliga geschrieben, deren Druck schon
vor dem Tode H.'s abgeschlossen war. Hier habe ich Hirschfelds
Tätigkeit und seine Verdienste um die Kulturfortschritte kurz erwähnt.
Es ist unmöglich, Hirschfelds Lebenswerk in wenigen Zeilen er-
schöpfend zu besprechen. Denn seine Arbeitskraft und deren Er-
gebnisse waren ungeheuer !
Alle Gebiete der Sexualwissenschaft hat er bearbeitet und grosse
Teile dieser Wissenschaft überhaupt erst geschaffen.
52
Magnus Hirschfeld in memoriam
In durchsichtiger und klarer Sprache hat er die Ergebnisse der
Sexualwissenschaft popularisiert, so dass sie auch den Massen wirklich
zugänglich geworden sind.
Unendlich viele Menschen fanden Wissen und Hilfe durch seine
Bücher. Tausende und aber Tausende erhielten von ihm persönlich
oder mittelbar eine wertvolle — in manchen Fällen direkt lebens-
rettende — Hilfe gegen die eigenen sexuellen Nöte.
Hirschfeld war Humanist im besten Sinne des Wortes. Uner-
schöpflicher Wissendrang auf allen menschlichen Gebieten und be-
wundernswerter Fleiss waren mit allumfassender Liebe, Güte und
Hilfsbereitschaft in Hirschfeld vereinigt.
Sein Werk wird weiterleben und sein Name wird mit Ehrfurcht
genannt werden, wenn von seinen Verfolgern und Gegnern niemand
mehr sprechen wird.
Einen Lehrer, einen Helfer, einen Freund, einen grossen Menschen
haben wir verloren.
J. H. Leunbach.
53
Sex- Pol-Bewegung
Sex-Pol-Bewegung
Der Ausschluss Wilhelm Reichs aus der Infernationalen
Psychoanalytischen Vereinigung
Im Bericht des Zentralvorstandes der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung (I. Ztschr. f. Psa. 1935/1) fehlt die Darstellung eines peinlichen
Ereignisses. Wir ergänzen daher den offiziellen Kongressbericht zur Orien-
tierung der Mitglieder der I. P. V.
Auf dem XIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Luzern (26. — 31.
August 1934) wurde Wilhelm Reich aus der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung ausgeschlossen. Damit ist die erste Etappe eines schweren, 11 Jahre
lang andauernden Kampfes um die korrekte naturwissenschaftliche Psychologie
und Sexualtheorie abgeschlossen worden.
Eine ausführliche Darstellung der Motive dieses Ausschlusses und der Diffe-
renzen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung kann hier nicht gegeben wer-
den. Wir sparen sie uns für den Zeitpunkt auf, in dem weitere voraussehbare Ka-
tastrophen in der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychoanalyse eine ge-
naue historische Begründung erfordern werden. Hier soll nur kurz dargestellt wer-
den, wie sich heute bürgerliche wissenschaftliche Vereine gegen die Arbeit von
Forschern wehren, die bestrebt sind, die wissenschaftliche Forschung unbekümmert
ernst zu nehmen.
Die Art, in der der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte, ist derart grotesk,
dass sie dem Aussenstehenden kaum glaubhaft erscheinen wird. Die Sexpol hat es
sich zum Grundsatz gemacht, groteske, scheinbar sinnlose Methoden des Kampfes
nicht einzelnen Funktionären von Organisationen zuzuschreiben, sondern immer
wieder auf die objektiven Verhältnisse hinzuweisen, die hinter derartigen persön-
lichen Methoden wirken. Es ist notwendig, wenn man den Ausschluss begreifea
will, sich klarzumachen, in welch peinlicher Situation sich der derzeitige Vorstand
der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung befindet. Als Organisation
hat er eine ihrem Wesen und theoretischen Ursprung nach revolutionäre Wissen-
schaft zu vertreten. Doch die Vertreter dieser Organisation sind derart verwachsen
mit der Ideologie und dem Lebensmilieu der Gross- und Mittelbourgeoisie, sind
selbst derart überzeugt von der Unveränderlichkeit des heutigen Seins, dass sie
mit ihrer eigenen Theorie in Konflikt geraten mussten; dies geschah in dem'
gleichen Masse, in dem sich die politische Situation in der Welt reaktionär gestal-
tete und jede korrekte wissenschaftliche Arbeit mit Vernichtung der Existenz der
Wissenschaftler bedrohte. Darüber hinaus hatten die führenden Vertreter der
psychoanalytischen Bewegung niemals die Konsequenzen aus der psychoanalyti-
schen Sexualtheorie und klinischen Erfahrung ziehen wollen. Die Leitung der 1. P,
V. konnte gegen Wilhelm Reichs wissenschaftliche und klinische Anschauungen
nichts einwenden. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre wurde seine Arbeit (Genita-
litätslehre und Charakteranalyse) von einer grossen Anzahl von Mitgliedern der
I. P. V. als. konsequente Fortführung der ursprünglichen revolutionären Lehre
Freuds betrachtet. Mit guter Begründung konnte man ihn also nicht ausschliessen.
54
Sex-Pol-Bewegung
Man forderte daher schon seit Jahren, dass er freiwillig austrete. Reich wies das
zurück und erklärte, dass er niemals freiwillig austreten werde. Da bot sich in
einem Durcheinander von Missverständnissen die Gelegenheit, sich von der schwe-
ren Belastung, die Reich für die I. P. V. bedeutete, zu befreien. Die ursprüngliche
Absicht, die Gesellschaftsfähigkeit der Psychoanalyse unauffällig und leise zu
sichern, misslang allerdings.
Reich erhielt vor dem Kongress folgenden Brief:
»Sehr geehrter Herr Kollege! Der Verlag will zum Kongress einen Kalen-
der mit einem Mitgliederverzeichnis der Psychoanalytischen Vereinigung her-
ausbringen. Die Situation lässt es nun dringend geboten erscheinen, dass Ihr
Name im Verzeichnis der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft nicht
enthalten ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie dem Gegebenen Verständnis
entgegenbringen, die etwaige persönliche Empfindlichkeit im Interesse unserer
, psychoanalytischen Sache in Deutschland zurückstellen und sich mit dieser
Massnahme einverstanden erklären würden. Sie sind als wissenschaftliche und
schriftstellerische Potenz in der internationalen psychoanalytischen Gelehrten-
welt zu bekannt, als dass Ihnen, wie einem Neuling etwa, durch diesen Fort-
fall der geringste Schaden erwachsen könnte. Und überdies wird mit der Aner-
kennung der Skandinavier-Gruppe auf dem Kongress und Ihrem zukünftigen
Erscheinen in der Liste dieser neuen Gruppe das jetzige Problem gegenstandslos
werden. Darf ich Sie um umgehende Äusserung bitten?«
Reich antwortete mit einem ausdrücklichen Protest gegen die geplante Mass-
nahme und schrieb gleichzeitig an das Zentralsekretariat der I. P. V. folgenden
Brief:
»Sehr geehrtes Frl. Freud ! Ich erhalte heute die Mitteilung, dass im jetzt
erscheinenden Taschenkalender mein Name ausgelassen wurde. Man gibt mir
davon indirekt Kenntnis und erwartet, dass ich »sine ira auf Anführung ver-
zichten« werde. Mir ist dabei sehr vieles unverständlich und ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären könnten, welchen Sinn diese
Massnahme hat.
Zunächst weiss ich nicht, ob der Akzent in der fraglichen Mitteilung auf
»sine ira« oder auf »verzichten« liegt. Es ist mir auch ein Rätsel, weshalb
man sich nicht direkt an mich in einer derart entscheidenden Frage wandte,
vorausgesetzt, dass als Beweggrund nicht mehr in Frage kommt als gewisse
taktische Rücksichten. Mir ist weiter unerklärlich, was man dadurch zu er-
zielen hoffte, da ich doch zum Kongress einen Vortrag angemeldet habe und
ich keine Möglichkeit sehe, mich dort vor der deutschen Oeffentlichkeit zu
verstecken. Dass man, noch immer nur »gewisse« Rücksichten vorausgesetzt,
nicht zur Auskunft griff, mich in eine andere Gruppe zu übertragen, dass über-
haupt derartiges ohne mein Wissen, hinter meinem Rücken geschieht, macht
es mir wahrscheinlich, dass sehr Peinliches im Gange ist. Der Welt muss die
Auslassung meines Namens ein Zeichen sein, dass ich entweder ausgeschlossen
wurde oder selbst austrat. Da ich das Letzte nicht beabsichtige, das Erste mei-
nes Wissens nicht zutrifft, kann der eingeschlagene Weg, aus der Schwierig-
keit herauszufinden, kaum zum Ziele ihrer Bereinigung führen. Ich hatte
schon im vergangenen Jahre Gelegenheit zu zeigen, dass ich tiefes Verständnis
für die Verlegenheit, die ich darstelle, habe, trotzdem aber aus sachlichen
Gründen nichts selbst dazutun kann, sie zu beheben. Ich bitte Sie daher, mir
mitzuteilen, ob die Auslassung meines Namens mit Wissen des Zentralvor-
standes erfolgte, wenn ja, welche Gründe dafür sprachen und weshalb ich
davon nicht verständigt wurde; es ist für mich auch wichtig zu erfahren,
welche Beziehung diese Massnahme zu meiner Mitgliedschaft in der I. P. V.
hat.
Ich bitte Sie gleichzeitig, dem Vorstand der I. P. V. mitzuteilen, dass ich
gegen diese Massnahme protestiere und noch einmal ersuche, die bestehenden
Differenzen und schwebenden Fragen wie üblich vor der Oeffentlichkeit un-
serer Leser- und Mitgliedschaft auszutragen. So peinlich die Umstände und
der Zwang der Verhältnisse auch sein mögen, und zwar für alle Teile: Ich
muss mich dagegen wehren, still kaltgestellt zu werden. Die uns alle bewe-
genden, in mancher Hinsicht sowohl für die Zukunft der Psychoanalyse wie
die ihres Forschungsgebietes entscheidenden Erörterungen brauchen das Licht
der Welt nicht zu scheuen.«
55
Sex-Pol-Bewegung
Am 8. August erhielt Reich von Anna Freud folgenden Bescheid:
»Sehr geehrter Herr Doktor! Das Kongressprogramm ist eben in Druck und'
wird erst in den nächsten Tagen an die Mitglieder verschickt werden. Die Ver-
ständigung, wann Ihr eigener Vortrag angesetzt ist, haben Sie sicher inzwi-
schen erhalten.
Ihre Beschwerde gegen die Deutsche Vereinigung leite ich mit gleicher
Post an Dr. Jones weiter. Mir war von der 'ganzen Angelegenheit nicht das
mindeste bekannt, ich frage Jones, ob er etwas davon gewusst hat. Er wird
Ihnen direkt Nachricht geben.«
Am Vorabend des Kongresses traf Reich zufällig ein Mitglied des Internat,
Vorstandes in der Halle des Kongressaales. Dieser teilte Reich privat folgendes
.mit: Vor acht Tagen hätte die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung den Aus-
schluss Reichs beschlossen. Dieser Beschluss sei tatsächlich durchgeführt worden,
bedeute aber »nur eine Formalität«, da man mit Bestimmtheit damit rechne, dass
die Aufnahme der skandinavischen Gruppe auch die Frage der Mitgliedschaft
Reichs in befriedigender Weise lösen werde. Kurz darauf erfuhr Reich, dass der
frühere Vorsitzende der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und des
Internationalen Lehrausschusses Max Eitingon schon vot einem Jahr in einer
geheimen Vorstandssitzung den Ausschluss Reichs aus der deutschen Vereinigung
und damit auch aus der internationalen durchgesetzt hatte. Von diesem Beschluss
hatte bis zum Kongress niemand etwas erfahren. Als der Ausschluss Reichs
bekannt wurde, reagierten die anwesenden Kongressteilnehmer teils mit Unglauben,
teils mit Empörung, teils mit der tröstlichen Stellungnahme, das Ganze wäre ja
nur eine Formalität und Reich würde jederzeit in die skandinavische Gruppe auf-
genommen werden. Niemand zweifelte daran, dass der Vorstand der I. P. V. den
Ausschluss nicht bestätigen werde. Doch es stellte sich sehr bald heraus, dass der
Ausschluss Reichs durch den Vorstand der I. P. V. bestätigt war.
Entscheidend war in der ganzen Frage die Haltung der Norweger. Der Vorstand
der I. P. V. versuchte die Aufnahme der norwegischen Gruppe mit der Begründung
zu verknüpfen, dass sie sich verpflichten sollte, Reich nicht als Mitglied auf-
zunehmen. Doch die Norweger vertraten den korrekten Standpunkt: »Wir lassen
uns keine Bedingungen diktieren. Entscheidet, ob ihr uns aufnehmt oder nicht.
Wenn ihr uns nicht aufnehmt, dann treten wir aus.« Das scharfe und aufrechte
Auftreten der anwesenden Norweger (Schjelderup, Hoel, Raknes) machte grossen
Eindruck und schüchterte den Vorstand ein. Sie wurden als Ortsgruppe der I. P.
V. ohne jede Bedingung eingegliedert; doch die schwedische Gruppe wurde von
der norwegischen getrennt, um sie dem Einfluss Reichs zu entziehen. Reich hielt
nach seinem Ausschluss sein Referat nur mehr als Gast.
Man darf ruhig sagen, dass der Kongress völlig unter dem Eindrucke dieser
peinlichen Affäre stand.
Am Vorabend der Geschäftssitzung wurde, um einen öffentlichen Skandal zu
vermeiden, eine gemeinsame Sitzung mit je einem Vertreter der verschiedenen
Ortsgruppen und Reich unter dem Vorsitz von Anna Freud abgehalten, in der man
»Reichs Argumente hören wollte«. Das Ganze war eine Geste, denn man kannte
seine »Argumente« sehr gut. Reich konnte dort nur mehr wiederholen, was er in
seinen Schriften und in seiner Korrespondenz mit den I. P. V.-Funktionären seit
Jahren vertreten hatte: Der Forderung des I. P. V.- Vorstandes, freiwillig auszu-
treten, könnte er nicht Folge leisten. Wenn der I. P. V. -Vorstand ihn ausschloss,
so könnte er nichts dagegen unternehmen. Er verstünde zwar den bereits vollzo-
genen Ausschluss vom Standpunkt der Todestrieb-Theoretiker durchaus, denn seine
eigenen Anschauungen hätten sich so weit von den heutigen offiziellen Lehrmei-
nungen entfernt, dass ein gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich wäre. Er
erklärte aber gleichzeitig, dass er sich als den konsequentesten und legitimsten
Vertreter und Fortsetzer der ursprünglichen klinisch-naturjvissenschaftlichen Psy-
choanalyse betrachte, und von diesem Standpunkt aus den Ausschluss nicht aner-
kennen könne. Die Nichtanerkennung des Ausschlusses durch ihn hätte zwar kei-
nerlei organisatorisches Gewicht; doch er müsste darauf bestehen, dass die Gründe
des Ausschlusses im offiziellen Organ der I. P. V. publiziert werden. Dies wurde
zugesagt, aber nicht eingehalten. Dass sich später das Gerücht verbreitete, der
Vorstand hätte sich mit Reich bezüglich »des Austritts geeinigt«, entsprach nur
der tiefen Verlegenheit, die der bereits vor einem Jahr vollzogene Ausschluss für
alle Beteiligten bildete.
56
Sex-Pol-Bewegung
Die meisten Kollegftn in der I. P. V., mit denen Reich seit 16 Jahren in engem
persönlichen bezw. sachlichen Kontakt gestanden hatte, trösteten sich über das
Ganze mit der bereits erwähnten Auskunft hinweg, dass es sich ja nur um eine
■ formale Angelegenheit handle und der Wiedereintritt in die I. P. V. durch die
norwegische Vereinigung möglich wäre. Die Vertreter der norwegischen Gruppe
erklärten Reich gegenüber, dass er Mitglied ihrer Vereinigung werden könnte. Reich
entgegnete, dass er sich die Vor- und Nachteile eines Wiedereintritts überlegen
müsste, jetzt noch nichts sagen könnte, dass er sich aber verpflichtet fühlte, die
norwegischen Mitglieder auf die Komplikation aufmerksam zu machen, die seine
Wiederaufnahme für sie als Gruppe bedeuten würde. Es ist besonders hervorzu-
heben, dass zahlreiche Mitglieder sämtlicher Ortsgruppen der Welt, die am Kon-
gress anwesend waren, es für eine Selbstverständlichkeit hielten, dass Reich wie-
der Mitglied werde.
Zu erwähnen ist noch das komplette Versagen der Opposition, die sich auf An-
regung Reichs unter Führung von Otto Fenichel gebildet hatte. Fenichel war
den Anforderungen der Situation, die offenes und mutiges Auftreten erforderte,
in keiner Weise gewachsen. Es zeigte sich, dass bürgerliche Psychoanalytiker, die
keinen Anspruch erheben, dialektische Materialisten genannt zu werden und nur
fachlich mit der heutigen Richtung der Psychoanalyse unzufrieden sind, viel ein-
deutiger waren als diejenigen, die gich dazu berufen fühlten, ohne es in Wirk-
lichkeit zu sein. Fenichel fiel später vollständig um, als er mit allen Mitteln
gegen- die Wiederaufnahme Reichs in die norwegische Gruppe agitierte.
An dieser Stelle muss ausdrücklich betont werden, dass die dialektisch-mate-
rialistische Psychologie vollkommen identisch ist mit der personellen Sexualöko-
nomie, und dass niemand das Recht hat, sich dialektisch-materialistischen Psy-
choanalytiker zu nennen, wenn er nicht auch die Konsequenzen zu tragen bereit ist,
die mit der Vertretung der Theorie der Sexualökonpmie verknüpft sind. Die Sexpol
lehnt jede Verantwortung für die von Fenichel unter der Bezeichnung »dialek-
tisch-materialistische Psychologie« vertretene Anschauung ab.
Die peinliche Rolle, die bei dem Ganzen Fenichel spielte, erfuhr noch eine
Verschärfung. In der IMAGO (1934, 4. Heft) erschien vom Redakteur Robert Wäl-
der im Auftrage der Leitung der I. P. V. eine längere Besprechung der »Zeitschrift
für politische Psychologie und Sexualökonomie« (Herausgeber Ernst Parell), die
mit folgenden Sätzen endet:
»Es hat schon viele Richtungen gegeben welche sich der Psychoanalyse
bedienen, ihr mehr oder weniger grosse Stücke unter Ablehnung anderer ent-
nehmen, anderes für ihre Zwecke modifizieren und präparieren, nach der
Parole: »Herausbrechen und anderswo einfügen«. Wie ist es zu rechtfertigen,
gerade dem vorliegenden Unternehmen an dieser Stelle so viel Aufmerksam-
keit zu widmen? Nun, an der Spitze dieser Bewegung steht ein Mann, der
durch eine Reihe von Jahren durch seine klinischen Beiträge verdienstlich
gewirkt hat. Seine Arbeiten haben, wenngleich durch eine gewisse Neigung
zur Einfachheit vielfach schematisierend, doch im ganzen befruchtend ge-
wirkt. Die Wiederbelebung des allmählich in Vergessenheit geratenen Gedan-
kens vom aktualneurotischen Kern der Psychoneurosen; der Rat, in der kli-
nischen Analyse stets von der oberflächlichsten Schicht, vom behaviour, aus-
zugehen und erst allmählich, ohne Kurzschluss, zum Unbewussten vorzudrin-
gen; die häufige Mahnung an das Vorkommen der im Bilde einer positiven
Übertragung auftretenden latenten negativen Übertragung, die gewiss leicht
übersehen wird; der — in dieser Form übertriebene — Rat, in Widerstands-
situationen sich der Analyse der Widerstandsmotive zu widmen und das etwa
gleichzeitig ausströmende Material beiseite zu lassen; dies und manches an-
dere hat die Diskussionen zu Fragen der Technik vielfach belebt und es gibt
viele, die diesen Anregungen Reichs für ihre technische Sicherheit viel zu
danken haben. Aber die Verdienste der Vergangenheit sind kein Grund einer
länger dauernden Schonzeit für Irrtümer der Gegenwart. So muss denn in
aller Klarheit gesagt werden, dass die hier vorliegenden »wissenschaftlichen«
Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, dass niemand,
der Reich auf seinem Wege folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psycho-
analyse zu berufen, als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalyti-
schen Gedankenguts, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für
ihre Zwecke verwenden.«
57
Sex-Pol-Bewegung
In der »Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie« hatte
Otto Fenichel (1. Nummer) einen Aufsatz »Die Psychoanalyse als Keim einer
dialektischen materialistischen Psychologie« publiziert. In der scharfen Ableh-
nung der Zeitschrift und ihrer Autoren, die mit Namen angeführt wurden, wie
Reich und Parell, fehlt der Name Otto Fenichel, und auch sein Aufsatz war nicht
erwähnt. Die Zukunft wird zeigen, ob die Anschauung, die die Sexpol über diese
Tatsache gebildet hat, zu Recht besteht. Klar ist jedoch, dass die I. P. V.-Leitung
mit ihrer Warnung, Reich auf seinem Wege zu folgen, vollständig Recht hat.
Denn Reich hat die Todestrieblehre, die bürgerlichen Moralanschauungen, die
Inkonsequenz zwischen Theorie und Praxis, die Akademismen und die Grund-
eigenschaft jeder bürgerlichen Wissenschaft, von den Hauptproblemen durch
spitzfindige Detailierung nebensächlicher Fragen abzulenken, über Bord gewor-
fen. Er hat aus dem Gebäude der Psychoanalyse gerade das »herausgebrochen«,
was ihr nicht nur die Feindschaft der Welt im Beginne eingetragen hatte, son-
dern ihr auch eine grosse Zukunft sichert: Die Lehre vom Unbewussten, die Lehre
von der kindlichen Sexualität, die Lehre von der Verdrängung und vom Wider-
stand, die Lehre vom somatischen Kern der Neurose, die Lehre vom Gegensatz
zwischen Trieb und Aussenwelt etc. Diese aus dem Lehrgebäude der Psychoanalyse
»herausgebrochenen« Stücke erfahren durch die charakteranalytischen und sexual-
ökonomischen Spezialisten der Sexpol auf klarer dialektisch-materialistischer Ba-
sis gerade die konsequenteste theoretische und praktische Durchführung. Reichs
Orgasmuslehre ergänzte diese Kernstücke einer revolutionär naturwissenschaft-
lichen Psychologie um den Gesichtspunkt der Oekonomie des Seelenlebens und
schuf ein tragfähiges Gegengewicht gegen die metaphysischen Theorien vom bio-
logischen Willen zum Leiden. Seine Theorie der Therapie und charakteranalyti-
schen Technik legten die ersten Grundlagen der künftigen Neurosenprophylaxe.
Seine Theorie der Sexualökonomie brach endgültig mit der sexuellen Verschämtheit
der offiziellen Psychoanalyse, indem sie den Widerspruch zwischen Natur und
Kultur theoretisch auflöst.
Der Ausschluss Wilhelm Reichs erfolgte laut der Erklärung der Zentralse-
kretärin der I. P. V., Frl. Anna Freud, liicht wegen seiner eigenen wissenschaft-
lichen Entdeckungen und Anschauungen ,die zu vielen Theorien Freuds im Ge-
gensatz stehen (Orgasmustheorie und Charakteranalyse), auch nicht wegen seiner
revolutionären gesinnung, denn es gäbe, wie gesagt wurde, viele Analytiker in
der 1. P. V. trotz abweichender wissenschaftlicher Theorien oder trotz kommu-
nistischer Gesinnung. Die Trennung von Reich sei notwendig wegen der spezifi-
schen Art, in der er aus der wissenschaftlichen Arbeit politische Konsequenzen
ziehe. Gemeint war die Sexualpolitik. Diese Konsequenzen und die Vereinigung
von Wissenschaft und Politik wären für die I. P. V. untragbar. In der Kritik der
»Zeitschrift für politisch Psychologie und Sexualökonomie« hebt Wälder aus der
Einführung der Redaktion der Sexpol folgenden Passus ablehnend hervor:
»Die Trennung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Weltan-
schauung oder Politik lehnen wir ab «
»Wir wollen der bewusst reaktionären Wissenschaft eine bewusst revolu-
tionäre entgegenstellen, die sich zu den Zielen der Arbeiterbewegung offen
bekennt und sich in deren Dienst stellt. Wir werden mit Leichtigkeit beweisen
können, dass wir, um unsere Aufgabe zu erfüllen, nichts anderes zu tun
haben, als voraussetzungslos wissenschaftliche Arbeit zu treiben; dagegen
muss der reaktionär gesinnte Wissenschafter, um seine soziologische Rolle zu
erfüllen, die Wahrheit verhüllen, abbiegen, mit Mystik durchsetzen, kurz sol-
chermassen die primitivsten Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeit ver-
leugnen. Wir werden mit der gleichen Leichtigkeit nachweisen können, dass
die Trennung von Sein und Sollen künstlich ist, dass das Sollen mit Eigenge-
setzlichkeit aus der Erkenntnis des Seins hervorgeht, was nur durch Bruch
mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeit verhindert wird. Konse-
quente unbeirrte Wissenschaft ist an sich revolutionär, entwickelt automa-
tisch praktische Konsequenzen, und die sozialistische Politik ist im Grunde
nichts anderes als die Praxis der wissenschaftlichen Weltanschauung.«
Wälder ist offizieller Redakteur der »Imago«. Die I. P. V. trägt daher die
Verantwortung für folgende Sätze:
58
Sex-Pol-Bewegung
»Politik und Psychologie sind hier in unklare Symbiose getreten. Wir
sind sicher, dass die Psychologie dabei nicht zu gewinnen hat. Wir treffen
hier auf die zuerst vom Marxismus propagierte, später von anderen politi-
schen Richtungen in ihrer Weise übernommene Formel, dass Erkenntnis
stets Ausdruck eines Seins ist und auch Ausdruck eines Seins sein soll; die
wahre, echte Erkenntnis ist dann im Sinne dieser Theorie diejenige, in der das
eigene Sein zum Ausdruck kommt. In der marxistischen Literatur, zu der die
vorliegende Zeitschrift zählt, ist die sogenannte proletarische Wissenschaft
mit dem Index der Echtheit versehen. In anderen, neueren Richtungen wird
mit nicht geringerer Sinnwidrigkeit jene Wissenschaft für die echte gehalten,
welche Ausdruck eines, anderen, nicht ökonomisch, sondern irgendwie anders,
etwa national, angesetzten Seins ist. All diesen Theorien fehlt die Einsicht
in den Sachverhalt, dass es Wissenschaft, Erkenntnis vom Gegenstand, nur
insoweit gibt, als das erkennende Subjekt sein Sein transzendiert. Wissen-
schaft ist, möchte man sagen, wesensmässig bodenlos. Freilich bricht der
Ausdruck des Subjektiven in die Erkenntnis des Objektiven, das Ausdrucksfeld
in das Darstellungsfeld ein; aber das ist eine Fehlerquelle wissenschaftlicher
Arbeit.«
Wie vornehm lässt sich doch derart transzendiert reden ! Wie harmlos ersetzt
der objektive, unpolitische Wissenschaftler Robert Wälder das Wörtchen »Sein«
durch »eigenes Sein«, um dann »bodenlose« Wissenschaft betreiben zu können!
Doch, reden wir nicht vom Transzendieren, sondern fragen wir Wälder, ob Aichhorn
sein Sein transzendiert hatte, als er in einem grundlegenden Buche über die
verwahrloste Jugend in geschicktester Weise die Frage der genitalen Konflikte und
Nöte der Jugend umging; ob das Sein transzendiert war, als die Todestrieblehre
geschaffen wurde; ob Laforgues Lehre, die Polizei diene der Befriedigung des
Straf bedürfnisses der Masse, einer solchen Transzendierung entspricht; oder die
Lehre, dass »die Kultur« die Sexualunterdrückung fordere; oder Glovers These,
die Kriege könnten vermieden werden, wenn man die Diplomaten analysierte; oder
Roheims Theorie, dass »die Frau eigentlich nur befriedigt wird, wenn sie nach
dem Geschlechtsverkehr an einer Entzündung erkrankt«; oder ist es ein Zeichen
bodenlos transzendierter Wissenschaft, wenn man nicht den Mut aufbringt, offen
der Kritik Reichs an der heutigen Psychoanalyse entgegenzutreten und sich hinter
geschäftsordnungsmässigen Formalismen verschanzt? Niemand ist es übelzunehmen,
■wenn er sich in dieser korrupten und gefährlichen Zeit schützt. Doch gegen die
Usurpation der wissenschaftlichen Kompetenz durch transzendierte Wissenschaftler
muss man sich energisch wehren. Wissenschaft ist kein Bridgespiel in einem
anheimelnden Salon. Wälder hole sich die Bestätigung dieser Ansicht bei Freud
«elbst !
Es ist nicht Ahnungslosigkeit, sondern entspricht völlig dem Geiste, der
gegenwärtig die 1. P. V. beherrscht, dass ein offizieller Redakteur einer sich
radikal nennenden wissenschaftlichen Organisation Karl Marx in einem Atemzuge
mit Hitler, Engels, Bebel, Karl Liebknecht, Lenin, Rosa Luxemburg in einem
Atemzuge mit Göbbels, Göring, Julius Streicher zu nennen wagt. Es ist durchaus
■ein Problem der Sozialpathologie, dass die Richtung, deren Sprachrohr Wälder
ist, sich ebenso benimmt, wie die Gruppe der sogenannten »deutschen Juden«.
Man -wird zwar geprügelt, bleibt aber vornehm dabei. Zwar wurden Freuds
Bücher von Adolf Hitler verbrannt, zwar tritt die deutsche Psychotherapie unter
der Führung C. G. Jungs in echt nationalsozialistischer Weise gegen den Juden
und »Untermenschen« Sigmund Freud auf, zwar findet die Psychoanalyse Freuds,
soweit sie naturwissenschaftlich ist, immer mehr Anerkennung und echte, wahr-
hafte, verständnisvolle Vertretung im Lager der revolutionären Bewegung, aber
man bleibt vornehm. Man sitzt zwischen den Stühlen und beruhigt sich mit
objektivem Geist.
Die I. P. V. ist die Organisation, die die Pflege der Freudschen Naturwissen-
schaft zur Aufgabe hat. Die sozialistische revolutionäre Bewegung der Welt muss
sich zur Bewältigung ihrer riesenhaften Aufgaben im Kampf gegen Mystizismus,
Borniertheit und Untertanentum alles zu eigen machen, was die bürgerliche Welt
an Erkenntnissen produziert. Wir wissen, dass der Naturwissenschaftler Freud
mit dem bürgerlichen Kulturphilosophen Freud in schwere Konflikte geriet. Es
gilt jenen gegen diesen zu schützen, seine Arbeit fortzuführen und in den Dienst
der sozialistischen Freiheitsbewegung zu stellen. Es gilt, der sozialistischen
59
Sex-Pol-Bewegung
Bewegung der Welt ein Heer klinisch gut geschulter, zum Kampfe gegen den
Mystizismus in jeder Form entschlossener Psychologen, Pädagogen und Psycho-
therapeuten theoretisch und praktisch vorzubereiten; der künftigen Sexualhygiene
der Masse der Erdbevölkerung eine sichere Basis zu schaffen; der nationalistischen
und ethisierenden Psychologie ä la Jung eine dialektisch-materialistische, d. h.
naturwissenschaftliche Psychologie entgegenzustellen; die Lustangst der Menschen
zu begreifen und zu zerstören; die Strukturforschung zu derart brauchbaren
Ergebnissen zu führen, dass sich daraus praktisch die sozialistische Umstruk-
turierung der Menschen ergibt; die anti-religiösen Triebkräfte, d. h. die sexuellen
Lebensansprüche gegen die mystischen, den Menschen beherrschenden Neigungen
zu entfalten; kurz, es gibt reichlich wichtige und unerlässliche Aufgaben. Darum
geht es im wesentlichen, und nicht etwa um die Borniertheit eines Redakteurs,
der Karl Marx und Adolf Hitler auf eine Stufe stellt.
Aus eben dem gleichen Grunde mahnen wir die wenigen Psychoanalytiker, die
sich Sozialisten nennen, nicht daran zu vergessen, dass eine Naturwissenschaft
für einen Sozialisten nur insofern Bedeutung hat, als sie — früher oder später —
der rationell bewussten Gestaltung des gesellschaftlichen Daseins zu dienen
vermag. Denjenigen Psychoanalytikern, die erklären. Freunde der Sexpol zu sein,
wollen wir hier in freundschaftlicher Weise, aber hoffentlich endgültig klarmachen,
dass es nicht darauf ankommt, »freundschaftliche Gefühle« zu hegen, sondern
praktische Hilfe und Arbeit zu leisten, unbeirrt die Konsequenzen aus der theo-
retischen Erkenntnis zu ziehen, und sich endgültig von denjenigen Eigenschaften
der bürgerlichen Psychoanalyse zu befreien, die nicht nur ihre Bedeutung für
die sozialistische Bewegung herabmindern oder sogar vernichten, sondern auch
der Psychoanalyse selbst als Naturwissenschaft jede Zukunft rauben.
Wer dies aus strukturellen oder sozialen Gründen nicht zu leisten vermag,
der stehe still beiseite. Niemand wird ihm seine Passivität übel nehmen, aber
wer unter der Maske der Freundschaft sabotiert, sich auf den berühmten »objek-
tiven Standpunkt« zurückzieht, um dann plötzlich gegen uns aggressiv zu werden;
wer schliesslich sein schlechtes Gewissen, das er der wissenschaftlichen Arbeit
und der sozialistischen Bewegung gegenüber bekommt, mit Ausreden und »Theo-
rien« zu verhüllen versucht, wird von uns ohne jede Rücksicht bekämpft und vor
der Öffentlichkeit biossgestellt werden. Letzten Endes werden sie, wir fürchten
zu spät, erkennen, dass ihnen die Vorsicht und das ebenso berühmte taktische
Verhalten garnichts genützt haben. Sie werden erkennen, dass es in dieser Zeit,
die von jedem alles fordert, nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder im Lager
der politischen Reaktion moralisch und wissenschaftlich zugrunde gerichtet weiter-
zubestehen, oder aber mit den Konsequenzen zu rechnen, die eine revolutionäre
wissenschaftliche Arbeit heute mit sich bringt. Wir haben es gelernt, von niemand
mehr zu fordern, als er geben kann, aber man kann von uns nicht verlangen,
dass wir uns die Unanständigkeiten und Feindseligkeiten zahm gefallen lassen,
die sich aus einer unehrlichen Einstellung heute mit Notwendigkeit ergeben. Wer
glaubt, die revolutionäre Bewegung täuschen zu können, irrt. Es gibt Situationen
im Kampf, die den Unehrlichen unweigerlich entlarven und vernichten. Es ist
daher auch im Interesse der Arbeiterbewegung gelegen, wenn jeder rechtzeitig
die Grenzen seiner Möglichkeiten erkennt und sich danach richtet.
Die Leitung der L P. V. hat die reaktionären Strömungen der heutigen Zeit
auf ihrer Seite. Die Sexpol kämpft gegen den Strom. Doch die Geschichte lehrt,
dass reaktionäre Zeitströmungen, und mögen sie noch so eindrucksvoll und
einschüchternd sein, auch vergehen. Eine revolutionäre Umkehrung im Kräfte-
verhältnis des Kampfes um eine neue gesellschaftliche Daseinsform, wird die
heutigen Vertreter der Wissenschaft und ihre ergebenen Funktionäre in nicht
geringe Verlegenheit versetzen.
Hier besteht weiter zu recht, was Wilhelm Reich am 17. 3. 33 wenige Wochen
nach der Machtergreifung Hitlers an die Leitung des Internationalen Psycho-
analytischen Verlages schrieb:
»Gestern teilte mir der Verlagsleiter, Herr Dr. Freud, mit, dass auf Beschluss
der Verlagskommission und der Verlagsinhaber der Vertrag, wonach mein
Buch »Charakteranalyse« im Verlag demnächst herauskommen sollte, rück-
gängig gemacht wird. Begründet wurde dieser Beschluss mit der Rücksicht
auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse, die es nicht angebracht
erscheinen Hessen, meinen kompromittierten Namen neuerdings offiziell zu
60
Sex-Pol-Bewegung
vertreten. Ich sehe in meiner Stellungnahme dazu von meinen Rechten als
eingeschriebenes und aktives Mitglied der IPV vollkommen ab, vermag sogar
den Standpunkt der Kommission und der Inhaber als Vorsichtsmassnahme
zu begreifen, wenn auch als wissenschaftlicher Arbeiter nicht zu billigen.
Darüber hinaus sehe ich mich aber verpflichtet, im Namen der phychoana-
lytischen Bewegung bezw. eines Teiles dieser Bewegung auf die Illusionen
aufmerksam zu machen, denen sich die Leitung und Verlagskommission
hinzugeben scheinen.
1. Die politische Reaktion identifiziert schon lange die Psychoanalyse
mit dem »Kulturbolschewismus«, und zwar mit Recht. Die Entdeckungen der
Psychoanalyse widersprechen restlos der nationalistischen Ideologie und be-
deuten eine Gefahr für deren Bestand. Es ist vollkommen gleichgültig, ob die
Vertreter der Psa. nunmehr diese oder jene Schutzmassnahme ergreifen, ob
sie sich von der wissenschaftlichen Arbeit zurückziehen oder diese den
herrschenden Verhältnissen anpassen werden. Der soziologisch-kulturpolitische
Charakter der Psychoanalyse lässt sich durch keinerlei Massnahme aus dei
Welt schaffen. Der Charakter ihrer Entdeckungen (kindliche Sexualität, Sexual-
verdrängung, Sexualität und Religion) macht sie vielmehr zu einem Todfeind
der politischen Reaktion. Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben
an eine »unpolitische«, das heisst der Politik völlig disparate Natur der Wissen-
schaft verstecken: Das wird nur der wissenschaftlichen Forschung schaden,
aber die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo
sie in der Tat liegen, und dementsprechend zu bekämpfen. (Z. B. Verbrennung
der Bücher Freuds.)
2. Da die Psychoanalyse nach übereinstimmender Ansicht ihrer Vertreter
über die medizinischen Aufgaben hinaus kulturpolitische Bedeutung hat und
in den bevorstehenden gesellschaftlichen Kämpfen um die Neuordnung der
Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielen wird, gewiss nicht auf Seite
der politischen Reaktion, bedeutet jeder Versuch einer Anpassung oder Ver-
hüllung des Wesens der Bewegung sinnlose Selbstopferung. Und dies umsomehr,
als eine starke Gruppe von Analytikern entschlossen ist, den kulturpolitischen
Kampf nicht aufzugeben, sondern weiterzuführen. Die Existenz dieser Gruppe,
gleichgültig ob innerhalb oder ausserhalb der IPV., ist politisch kompromit-
tierend, auch wenn ihre Hauptvertreter physisch vernichtet werden sollten.
Ich sehe keine Möglichkeit für die Leitung der IPV., sich von dieser Gruppe
abzugrenzen, da sie vollständig und im Gegensatz zu anderen Gruppen in voller
Konsequenz auf dem Boden der psychoanalytischen Entdeckungen steht.
3. So schwierig und kompliziert die Beziehungen der Psychoanalyse zur
revolutionären Arbeiterbewegung sind, so ungewiss in ihrem Endausgang die
Auseinandersetzung zwischen Psa. und Marxismus auch ist, — an der Tatsache,
die objektiv und von persönlichen Stellungnahmen unabhängig ist, dass die'
analytische Theorie revolutionär und ihr Platz daher auf Seite der Arbeiter-
bewegung ist, lässt sich von niemand rütteln. Ich sehe daher die wichtigste
Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern
die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern. Erste Vor-
aussetzung dazu bleibt, sich keinen Illusionen hinzugeben, zu wissen, dass die
oft genannten Güter der Kultur nur eine Sachwalterin haben, die Arbeiterklasse
und die zu ihr stehende Intelligenz, die derzeit im deutschen Reiche schweres,
blutiges Lehrgeld zahlen. Der geschichtliche Prozess hat mit Hitler keineswegs
seinen Abschluss gefunden. Wenn jemals der Nachweis der historischen
Daseinsberechtigung der Psychoanalyse und ihrer soziologischen Funktion
erforderlich war: Die jetzige Phase der geschichtlichen Entwicklung muss ihn
erbringen.«
Ein Abtreibungsprozess in Dänemark
Wir bringen im Folgenden einen kurzen Bericht über den Prozess gegen
Dr. Leunbach, der mit vollem Freispruch abschloss.
Gerade dieser Sexualprozess war geeignet, eindeutig zu demonstrieren, wie
unvergleichlich grösser und intensiver das Interesse breiter, sonst unpolitischer
61
Sex-Pol-Bewegung '
Schichten der Bevölkerung geweckt werden kann, wenn es sich um Fragen des
persönlichen Lebens handelt. Dass Genosse Leunbach dem Prozess in korrekter
Weise die politische Wendung gab, bewirkt, dass die politische Reaktion vielleicht
zum ersten Male in dieser Form zu spüren bekam, was es bedeutet, sich gegen
die sexuellen Bedürfnisse der Menschen anzustemmen. Dem revolutionären Wirt-
schaftsprogramm lässt sich noch ein reaktionäres Geflunker entgegenstellen,
doch der revolutionären Sexualpolitik kann die politische Reaktion nichts ent-
gegenstellen, hier gibt es kein Geflunker, sondern nur ein Entweder — Oder,
Bejahung aller Voraussetzungen zu einem glücklichen Geschlechtsleben der Masse
oder Verhinderung desselben. Dies ist eine der Stärken der Sex-Pol.
Am Tage nach der Freisprechung sagte ein einfacher Arbeiter zu einem
Sex-Pol-Genossen auf der Strasse, als er Leunbach sah: »Dies ist der beste Mann
Dänemarks«. Dieser Ausspruch beweist, welche Liebe, welches Vertrauen man
gewinnt, wenn man beweist, dass man die »Untermenschen« begriffen hat. Es
zeigt aber auch, welche ungeheure Verantwortung dieses Vertrauen einem auflädt.
Dieser Prozess war nur ein Anfang. Die Redaktion.
Vom 7. bis 9. Mai hat sich in Kopenhagen vor dem Geschworenengericht
ein Prozess abgespielt, der für die Sex-Pol-Bewegung grosse Bedeutung hat, erstens
weil ein grosser Abtreibungsprozess immer die durch die Sexualunterdrückung
stark beeinflussten Affekte der Bevölkerung in Bewegung setzt, zweitens weil
der Hauptangeklagte der Leiter der Sexualpolitik in Dänemark ist. Schon im
Jahre 1932 wurde Dr. Leunbach wegen Abtreibung auf Veranlassung eines kopen-
hagener Arztes Dr. Claudius bei der Polizei angezeigt und gleichzeitig wurde
gegen ihn eine grosse Kampagne in der reaktionären Presse eingeleitet. Erst
3 Jahre später wurde der Prozess vor's Gericht gebracht.
Es ist an sich etwas ganz Aussergewöhnliches, dass ein Prozess so lange
hingeschleppt wird, und in diesem Fall gab es überhaupt keinen vernünftigen
Grund für eine so lange Verzögerung. Die Sache war von Anfang an völlig klar,
indem Dr. Leunbach öffentlich erklärte, er hätte in 310 Fällen abortus provocatus.
ausgeführt. Schon im Jahre 1931 hat er in deutschen Fachschriften über seine
Verwendung der Heiserschen Pastenmethode berichtet. Freilich hatte keine dänische
Zeitschrift den Bericht abgedruckt, aber Dr. L. hatte Sonderdrucke von den
deutschen Berichten an alle Gynäkologen und .Chirurgen Dänemarks heraus-
geschickt. Eben weil er eine neue Technik des Abortus einführen wollte, hat er
sich im wesentlichen darauf beschränkt, nur kranke Frauen zu behandeln, bei
denen eine medizinische Indikation durch den Hausarzt oder einen Spezialisten
bestätigt worden war.
Diese Vorsichtsmassregel hat es den Behörden sehr schwierig gemacht, gegen
Dr. L. vorzugehen. Freilich ist nach dem dänischen § 242 die Abtreibung aus-
nahmslos verboten; aber wie in allen Ländern hat die Gewohnheit sich ein-
gebürgert, dass ein abortus provocatus auf medizinischer Indikation nicht strafbar
sei. Wenn man dem § 242 streng folgen sollte, hätte man sämtliche dänischen
Gynäkologen und Neurologen ins Gefängnis setzen müssen.
Bisher waren aber nur Frauen aus den wohlhabenden Kreisen behandelt
worden. Die Klientel Leunbachs war zum grossen Teil Arbeiterfrauen und seine
Tätigkeit als Sexualberater und Agitator für Empfängnisverhütung und sexuelle
Freiheit und Gesundheit der Bevölkerung erfolgte hauptsächlich unter den
Arbeitermassen. -
Ein Klassenprivilegium wurde also durchbrochen.
Dazu kam, dass kurz nach der Einleitung der Voruntersuchung im Herbst 1932
Leunbach sich auf ein sexualpolitisches Programm zur Parlamentswahl aufstellen
Hess und dadurch der kommunistischen Partei zu ihren zwei ersten Mandaten
im Reichstag verhalf. Die sozialdemokratische Partei, die die Regierung in Däne-
mark bildet und die Kommunisten wie das böse Gewissen fürchtet und hasst,.
hat ihre Wut gegen Leunbach gerichtet und die Anklage wegen Abtreibung zu
seiner Vernichtung benützen wollen. Die Grundlage einer Anklage war aber so
klein, dass eine Verurteilung durch Geschworene kaum zu erhoffen war. Deswegen
hat man nach einem Jahr eine neue Anklage hinzugefügt, nämlich wegen fahr-
lässiger Tötung. Auf 320 Fälle hat Dr. L. 3 Todesfälle gehabt, genau dieselbe
Mortalität, die sich überall feststellen lässt, wenn es sich um abortus, provocatus
auf medizinischer Indikation handelt. Selbst bei einer aussergewöhnlich grossen
Mortalität wäre es sehr schwierig gewesen, eine Fahrlässigkeit Von Seiten Leun-
62
Sex-Pol-Bewegung
bachs als Todesursache festzustellen. Deshalb hat man es als Fahrlässigkeit
hingestellt, eine noch nicht genügend durchprobierte Methode, nämlich die Pasten-
methode, zu benutzen.
Dennoch hat man mit Anklage wegen fahrlässiger Tötung so lange
gezögert, bis der erste Todesfall schon verjährt war. Dies haben die Richter
aber erst am letzten Tag der Gerichtsverhandlung »eiitdeckt«. Die Anklagebehörde
brauchte nämlich als Hauptzeugen den Arzt, der diese Patientin nach Dr. L. be-
handelt hatte, weil er noch williger als die anderen Chirurgen war, gegen Leunbach
auszusagen.
Die lange Wartezeit von 3 Jahren hat die reaktionäre Presse reichlich benutzt,
um Dr. L. auf jede Weise zu diffamieren. Dazu hat mau hauptsächlich eine
Beschuldigung wegen pekuniärer Ausbeutung der kranken Frauen benutzt. Während
der Voruntersuchung hat die Anklagebehörde hohe Phantasiepreise konstruiert,
die von Dr. L. nie weder verlangt noch empfangen worden sind. Die Beschuldigung
ist aber überall in der Presse — hauptsächlich in der sozialdemokratischen —
während der ganzen Zeit wiederholt worden. Erst während des öffentlichen
Prozesses wurde es endlich möglich, dieser Diffamierung entgegenzutreten.
Die lange Verzögerung des Prozesses ist vielleicht auch dadurch zustande
gekommen, dass man es versucht hat, die Entscheidung aus den Händen der
Geschworenen zu nehmen und den Prozess vor Berufsrichter zu bringen. Die
Reaktion ist aber in Dänemark noch nicht so weit vorgeschritten, dass eine
Abschaffung der Geschworeneninstitution politisch durchführbar wurde.
Als die Anklagebehörde die Geschworenen nicht ausschalten konnte, hat
man als letztes Mittel versucht, die Stimmung der Geschworenen so vorzubereiten,
dass dennoch eine Verurteilung, »durch das Volk« möglich wurde. Nicht nur die
Zeugenaussage Dr. Claudius' sondern auch die Anklage des öffentlichen Anklägers
waren Musterbeispiele der Verleumdung und Beschmutzung.
Zwei weitere Ärzte waren mitangeklagt, ein Assistent Leunbachs, der selb-
ständig Operationen ausgeführt hatte, und ein Neurologe, der Gutachten aus-
gestellt hatte. Man hat sicherlich dadurch erreichen wollen, dass die Aktion
nicht zu deutlich als eine persönliche und politische Verfolgung hervortreten
sollte. Für die Anklagebehörde ist alles misslungen. Der Freispruch durch die
Geschworenen, die sämtliche Anklagen mit Nein beantworteten, hat eine
unbeschreibliche Wut in den reaktionären Kreisen hervorgerufen, die mehr als
alles anderes beweist, welsche Enttäuschung das »Versagen« der Geschworenen war.
Sowohl in der Presse wie im Reichstag ist die reaktionäre Wut laut geworden.
Erst hat man also versucht, die Geschworenen dazu zu benutzen, eine politisch
unangenehme Person zu vernichten. Nach der Enttäuschung wird die Abschaffung
der Geschworeneninstitution verlangt. Selbst der gegenwärtige und der ehemalige
Justizminister der sozialdemokratischen Regierung haben seh in dieser Richtung
geäussert.
Das Regierungsorgan, »Social-Demokraten«, das früher der Leiter in der
Diffamierungskampagne gegen Leunbach war, ist nach dem Prozess sehr zahm
geworden. Es lässt sich nämlich nicht leugnen, dass die breite Bevölkerung sich
hinter das Urteil der Geschworenen stellt und dass fast die gesamte Arbeiter-
bevölkerung Leunbach gegenüber tratz aller Diffamierung sehr sympatisch ge-
stimmt ist. Eine offen reaktionäre Stellungnahme zu den Fragen der Abtreibungs-
bestrafung und der Geschworeneninstitution könnte leicht grosse Wählermassen
von der Sozialdemokratie wegtreiben — und in die Reihen der Kommunisten
hinein. Die kommunistische Partei hat sich während des Prozesses völlig klar
auf die Seite der angeklagten Ärzte gestellt, selbst wenn sie leider noch weit
davon entfernt ist, die Bedeutung der Sexualpolitik richtig einzuschätzen.
Die Reaktionäre erkennen ehrlich aber zähneknirschend die Niederlage an.
Der Redakteur der »Berlingske Tidende« schreibt von einem der vielen Mittel, das
von der Anklagebehörde verwandt wurde: »Es war ein Wagestück, das nur be-
rechtigt wird, wenn es gelingt. Das Wagestück misslang und die Niederlage wurde
dadurch katastrophal.« Sie hatten offenbar sicher mit einer Verurteilung gerechnet
und verhehlen jetzt ihre Enttäuschung nicht. Dadurch hat der Prozess wieder
den rein politischen Charakter erhalten, den zu verhüllen man erst so eifrig
versuchte. Noch in der Anklagerede hat der Staatsanwalt mehrmals — aber
vergebens — die Behauptung versucht, es handele sich nicht um die prinzipielle
Frage der Abtreibungsbestrafung.
Es ist sehr erfreulich, dass der politische Charakter des Abtreibungsprozesses
63
Sex-Pol-Bewegung
so deutlich hervorgetreten ist. Sexualpolitiscb wurde der Prozess leider viel zu
wenig ausgenutzt. Der Verteidiger hat tüchtige und sachliche Arbeit geleistet.
Er war aber weder Sozialist noch Sexualpolitiker. Ein sexualökonomisch geschulter
Anwalt hätte hier etwas leisten können. Einen solchen gibt es aber leider noch
nicht. Der einzige, der die sexualpolitischen Ansichten zu Wort gebracht hat,
war Leunbach selbst. Er stand aber damit allein und wenn man die reale Gefahr-
situation, in der er sich befand, berücksichtigt, konnte man von ihm kaum mehr
verlangen als das, was er geleistet hat.
Sexpol-Schulung
Die hohen Anforderungen, die die Theorie und Praxis der Charakteranalyse
an den Sexualökonomen stellen, machen es notwendig, die Gründung eines Sexual-
ökonomischen Instituts konkret in die Wege zu leiten. Wir werden in einem der
nächsten Hefte über das Ergebnis unserer Bemühungen berichten. Da jedoch sich
schon heute viele, die nicht dazu berufen sind, als Charakteranalytiker ausgeben,
da ferner die Praxis der Charakteranalyse mit grosser persönlicher Verantwortung
verbunden ist und eine bestimmte Schulung voraussetzt, machen wir ausdrücklich
darauf aufmerksam, dass niemand das Recht hat, sich Charakteranalytiker zu
nennen, der hierzu nicht ausdrücklich von uns autorisiert wurde.
Die Richtlinien für die Ausbildung von Sexualökonomen, Charakteranalyti-
kern und Sexualpolitikern sind derzeit in Arbeit und werden demnächst der Öffent-
lichkeit vorgelegt werden.
Die Theorie der Sexualökonomie wird gegenwärtig nur in unverbindlicher
Weise in Arbeitsgemeinschaften gelehrt. Wilhelm Reich hielt an der Psychologi-
schen Universitätsabteilung in Oslo Vorlesungen über »Trieblehre und Charakter-
analyse«, die von etwa 50 Hörern besucht waren. Ausserdem wurde im Laufe
des letzten Jahres je ein charaktertechnisches Seminar in Oslo und Kopenhagen,
ferner ein sexualpolitischer Kursus in Kopenhagen abgehalten. Der Kopenhagener
und der Osloer Sexpol-Kreis hatten ferner mehrere Diskussionen über die Anwen-
dung der Massenpsychologie auf kulturpolitischem Gebiete u. a. über die massen-
psychologische Wirkung des Films, über Psychologie bei Marx, Engels, Lenin,
über die Sexualökonomie der Sowjets etc.
Wir erfahren aus Spanien, Jugoslavien, Palästina, England etc., dass sich
in diesen Ländern bereits kleine Kreise zum Studium der Sexualökonomie und
Sexualpolitik gebildet haben. Wir ersuchen diejenigen, die diese Kreise bildeten,
uns Bericht über den Gang der Arbeit zukommen zu lassen und sich mit uns im
Falle von Schwierigkeiten sofort in Verbindung zu setzen.
Hoffentlich gelingt es der Sexpol, trotz der ungeheuer schwierigen Verhält-
nisse in absehbarer Zeit die Frage der Ausbildung von Sexualökonomen und Cha-
rakteranalytikern in befriedigender Weise zu lösen.
GESCHICHTE DER DEUTSCHEN SEX-POL-BEWEGUNG
II.
Bereits im ersten Teil konnte gezeigt werden, welche Rolle gewisse Funk-
tionäre der K. P. D., insbesondere B. und S. hei der Sabotierung der sexualpolitischen
Plattform gespielt haben. Ebenso unheilvoll wirkte sich ihre mangelhafte theo-
retische Ausbildung und ihre unbewusste Ablehnung der Sexualität in organisa-
torischer Hinsicht aus. Systematisch bearbeiteten sie die massgebenden Vertreter
des Z. K., die Ärztefraktion und die unteren Einheiten der Organisatipn. Auf
diese Art entstand innerhalb relativ kurzer Zeit zwischen B. und S. und den von
ihnen beeinflussten Parteifunktionären einerseits und Reich andererseits ein un-
überbrückbarer Gegensatz.
Für die Partei wirkte sich dieser Gegensatz in der Weise aus, dass es z. B.
zwischen den Jugendlichen in Berlin und an anderen Orten auf der einen Seite
und den Reichgegnern unter den Funktionären auf der anderen Seite zu Kon-
64
Sex-Pol-Bewegung
flikten kam. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Arbeiterbewegung lernen
kann, zu welchen negativen Ergebnissen mangelhafte theoretische Schulung ver-
antwortlicher Funktionäre führt, und werden deshalb auch im dritten Teil ein-
schlägiges Tatsachenmaterial veröffentlichen. Leider erzwingt die Rücksicht auf
noch in Deutschland befindliche und unter Umständen gefährdete Personen Be-
grenzung und äusserste Verschleierung. Wir meinen zu dieser Diskretion auch
dann verpflichtet zu sein, wenn eine »offenere« Sprache unsere Meinungen besser
stützen würde.
Der Kampf innerhalb der KPD um eine marxistische (kommunistische) Theorie
und Praxis der Sexualpolitik fand im wesentlichen an zwei organisatorischen
Fronten statt. Erstens in der XYZ, der sexualpolitischen Massenorganisation,
zweitens in den Jugendorganisationen. Grundlage des theoretischen Kampfes waren
die bereits abgedruckte »Plattform«, sowie die Bücher bzw. Broschüren »Der sexuelle
Kampf der Jugend«, »Wenn Dein Kind Dich fragt«, »Das Kreidedreieck«, »Der
Einbruch der Sexualmoral«. Unter diesen Arbeiten spielte der »Kampf der Jugend«
eine besondere Rolle.
Die Arbeit war geschrieben worden mit der Absicht, die sexuelle Frage der
Jugend ausgehend von den Tatsachen, wie sie von der bisherigen (bürgerlichen)
Sexualwissenschaft erarbeitet worden waren, der gesellschaftlichen Wirklichkeit
gegenüberzustellen. Dabei ergab sich von selbst, dass die Sexualunterdrückung
der Puberilen ökonomische, soziale und politische Funktionen hat. Damit war
■zum ersten Male auf diesem Gebiete (die russische Fachliteratur solcher Art
bildet^ hiervon keine Ausnahme) eine wissenschaftlich klare und politisch konse-
quente Darstellung der einschlägigen Probleme gegeben worden.
Reich übergab diese Arbeit nach gründlicher Vordiskussion in interessierten
Kreisen des KJVD und nachdem sich in diesen Vordiskussionen gezeigt hatte, dass
die kommunistischen Jugendlichen nach einer derartigen Arbeit brennend ver-
langten, den massgeblichen Parteiinstanzen. Die Begutachtung brauchte lange Zeit.
Nach einigen Schwankungen der politischen Funktionäre sollte die kommunistische
Ärztefraktion ein Gutachten vom fachwissenschaftlichen Standpunkt geben. Sie
äusserte sich in ihrer Mehrheit positiv. Die Minderheit machte Bedenken vor
allem gegen den Autor als Psychoanalytiker geltend mit der Begründung, dass
die Psychoanalyse eine »bürgerliche Verfallserscheinung« sei.
Nunmehr sollte der »Kampf« in dem Verlage der Dachorganisation XYZ heraus-
gebracht werden. Nachdem die Verhandlungen bereits positiv abgeschlossen waren,
schalteten sich die beiden Funktionäre B. und S. ein. Systematisch sabotierten
sie unter Ausnutzung aller »Beziehungen hinter den Kulissen« den Druck.
Monatelang verstanden sie auf solche Art die bereits von den Parteiinstanzen
genehmigte Herausgabe zu verhindern. Nachdem Reich zu dem Ergebnis gekommen
war, dass er den Kulissenintriguen von B. und S. nicht begegnen köniTeT gründete
er mit geliehenem Gelde einen eigenen Verlag, und teilte den Parteiinstanzen unter
Beibringung von Tatsachenmaterial mit, dass er angesichts der Sabotage durch .
B. und S. gezwungen sei, die Arbeit in einem eigens zu diesem Zwecke gegründeten
Verlage herauszubringen.
Innerhalb kurzer Zeit kam der »Kampf« heraus und wurde von den kom-
munistischen Jugendorganisationen in den unteren Einheiten als dringend not-
wendig begrüsst. Wenige Wochen später erschienen auch die anderen, oben bereits
erwähnten Schriften. Während aber bei den Mitgliedern und Funktionären der
unteren Einheiten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durchwegs positiv Stellung
genommen wurde, setzte, von B. und S. geschickt geschürt, ein wütender Kampf
gegen Reich von selten der oberen Funktionäre ein. Leitmotiv war der formale
Bruch mit der Parteidisziplin, der von Reich nach der offenkundigen Sabotage
durch B. und S. bewusst begangen worden war.
Leider fehlt der Platz, Formen und Methoden dieser Hetze gegen Reich (dazu
wuchs sich der Kampf von B. und S. immer mehr aus) zu schildern. Das ist
auch nicht das Interessante an der ganzen Affäre. Viel wichtiger bleibt für die
Zukunft, welcher »Argumente« sich die verschiedenen Gegner bedienten. Den ent-
scheidenden Punkt, dass nämlich Reichs wissenschaftliche Anschauungen nicht
dem wirklichen Leben, den Bedürfnissen der Massen widersprachen, sondern nur
den ökonomistischen Interpretationen einiger leitender Funktionäre der KPD und
in erster Linie B. und S., berührte keiner seiner Kritiker.
Wir wollen nun der Reihe nach die wichtigsten »Argumente« anführen, wobei
wir Wert darauf legen, nur typische Äusserungen zu bringen.
65
Sex-Pol-Bewegung
„Argumenfe" gegen Reich
a) Ein Funktionär der Reichsleitung einer Jugend-Massenorganisation
»Das Sekretariat der Reichsleitung hat die Reichschen Schriften sehr gründ-
lich geprüft und endgültig abgelehnt. Daraufhin ist die Notiz in er-
schienen, nach der unsere Organisation diese Schriften nicht vertreiben darf.
Zu den einzelnen Publikationen ist zu sagen:
Annie Reich, »Wenn Dein Kind Dich fragt«. Die ganze Rroschüre kann bei
objektiver Charakterisierung nur als »ein Verbrechen an der Arbeiterklasse« be-
zeichnet werden. Man kann sie nicht scharf genug ablehnen. In der ganzen Arbeit
wird nicht ein einziges Mal auf die proletarische Bewegung hingewiesen. Sie gibt
Ratschläge, wie man die Kinder ununterbrochen auf sexuelle Dinge hinweisen,
ihr Geschlechtsleben also reizen soll. Diese ununterbrochene Hinweisung auf
Sexualprobleme ist falsch, weil sie Ablenkung vom Klassenkampf bedeutet. Statt
der gepredigten Verhaltungsweise müssen wir die Sexualität in Klassenbewusstsein
umlenken. Die Broschüre beweist, dass die Verfasserin die deutsche revolutionäre
Kinderbewegung überhaupt nicht kennt. Immer wieder wird gesagt, dass die
Sexualität gesteigert werden soll.
Wilhelm Reich, »Der sexuelle Kampf der Jugend«. Dieses Buch bringt nur
Unklarheiten in die proletarische Bewegung. Deshalb ist es verheerend. In Gruppen,
in denen über dieses Buch gesprochen wurde, ist Wirrwarr entstanden. Manche
Gruppen sind sogar zerfallen.«
b) Leitender Funktionär einer Massenorganisation (MdR)
»Reich will, dass wir aus den Turnhallen unserer Vereine Bordelle machen.
Wir sollen unsere Jugend auf die sexuellen Fragen raufstossen, statt sie davon
abzulenken. Wir wollen über Sexualität nicht viel reden, sonst aber stehen wir
ihr nicht ablehnend gegenüber.«
c) Leitender Funktionär der Bezirksleitung Berlin der KPD
»Unsere Aufgaben ergeben sich aus den Parteibeschlüssen und den Beschlüssen
des XII. Ekki-Plenums. Aus den Lohnkämpfen entwickelt sich der revolutionäre
Kampf. Auf den verschiedenen Frontabschnitten des Klassenkampfes haben wir
ihn, ausgehend von den Tagesaufgaben, zu organisieren als sexualpolitische
Organisation haben wir die Aufgabe, die von uns erfassten Schichten, im wesent-
lichen kleinbürgerliche, zu mobilisieren, ausgehend von den Forderungen unseres
Spezialgebietes. Dabei dürfen wir nicht ausgehen von dem, was uns trennt, sondern
von dem, was uns eint: Kampf gegen die Verelendung! Beispiel Religion. Religiöse
Probleme dürfen nicht in den Vordergrund gestellt werden. Z. B. »Hat Jesus
gelebt?«. Im Vordergrunde stehen für uns die wirtschaftlichen Fragen. Eben-
sowenig dürfen wir auf sexualpolitischem Gebiet ausgehen von einem »Kampf
gegen die Keuschheit oder Sittlichkeit«. Wir müssen uns imrner klar darüber
sein, dass wir Schichten vor uns haben, die von der Betriebsarbeit nicht erfasst
sind. Vollkommen falsch wäre zu sagen, die sexuelle Not sei die grösste. Noch
schlimmer wäre es, in unsern Jugendgruppen die sexuelle Frage in den Mittelpunkt
zu stellen. Unsere Gegner sagen immer, wir seien unmoralisch. Wir müssen
jedes Tagesereignis ausnützen, um zu zeigen, dass der Klassengegner unmoralisch
ist. Beispiel: die »Kinderprostitution im Humboldhain« hätte von uns zur
Mobilisierung der Massen ausgenützt werden müssen. Desgleichen die Sexual-
verbrechen.«
d) Eine kommunistische Ärztin (R.)
»Wir komm. Ärzte müssen bekennen, dass wir zum grossen Teil Schuld daran
haben, dass die Fraktion innerhalb der XYZ unter den ideologischen Einfluss
Reich's kommen konnte. Wir andern haben nicht gearbeitet. Er dagegen hat
sich sehr eingesetzt. Man muss entschieden betonen, dass die meisten Ärzte Reich
vollkommen ablehnen. Bei ihm steht der Orgasmus im Vordergrunde. Innerhalb
des Proletariats spielen jedoch Orgasmusstörungen nur eine ganz sekundäre Rolle.
Ich bin selbst früher Anhängerin der Psychoanalyse gewesen und habe mich
4 Jahre damit beschäftigt. Die Psychoanalyse ist wissenschaftlich unhaltbar.
Orgasmusstörungen sind eine bourgeoise Angelegenheit. Für das Proletariat spielt
der Gebärzwang eine entscheidende Rolle. Wer analytisch behandelt wird, starrt
wie hypnotisiert auf sein Geschlechtsleben. Nach der Revolution können wir auch
66
Sex-Pol-Bewegung
nicht die sexuelle Frage in den Vordergrund stellen. Die bislierige Auffassung
der Fralttion bedeutet die grosse Gefahr, dass Piltauterien, wenn auch nicht
Pornographien, als Lockmittel benutzt werden.«
e) Ein kommunistischer Arzt (F.)
»In meinen Referaten beschäftige ich mich höchstens 10 Minuten mit sexuellen
Fragen und 1% Stunden mit politischen Dingen. Hauptsache ist, dass die sexuellen
Fragen nur als Sprungbrett zu den politischen benutzt werden. Bei Reich steht
die Frage im Vordergrund: Wie komme ich zur Befriedigung? Er hat ein ganzes
Buch darüber geschrieben. Er geht nicht von der Produktion, sondern von der
Konsumtion aus, deshalb sind seine Auffassungen vollkommen unmarxistisch.
R. stellt in den Vordergrund die Sexuallust. Das ist unmarxistisch. In Wirklich-
keit sind die Geschlechtsbeziehungen gesellschaftlicher Art. Und der Geschlechts-
trieb ist Fortpflanzungstrieb. Man muss sich ernsthaft die Frage vorlegen, wer
heute Interesse an einer Korrigierung des Marxismus hat. Nur der Klassengegner.
Was soll man dazu sagen, wenn Reich sich erlaubt, Engels selbst korrigieren zu
wollen. Die These Reichs, dass wir die Jugendlichen mit ihren sexuellen Be-
dürfnissen in unsere Organisation ziehen müssen, ist vollkommen falsch. Unsere
Hauptfrage muss sein: Wie kämpfen wir gegen die gegnerischen Organisationen.«
f) Polleiter der XYZ (HJ.
»Was von mir immer behauptet wurde, dass die Fraktion ideologisch unklar
sei, ist evident geworden. Wie gefährlich Reich für die proletarische Bewegung
ist, geht daraus hervor, dass der KJVD in Gefahr stand, zerschlagen zu werden.
Reich's berüchtigte Resolution in hat unsere dortige Einheitsfrontbewegung
zerschlagen. Für uns steht nicht die sexuelle Frage im Vordergrund, sondern die
ökonomische. Geradezu ein Verbrechen ist es, dass Reich versucht hat, eine Anti-
bonzenstimmung zu erzeugen. Wir müssen Schluss machen mit der verfluchten
Sexualphilosophie.«
g) Ein kommunistischer Arzt
»Die XYZ muss die Verelendung als Anknüpfungspunkt benutzen. Wir müssen
uns darüber klar sein, dass die Verelendung die Menschen in unsere Organisation
führt. Unsere Aufklärung ist die ideologische Aufklärung, dabei muss die Klassen-
frage in den Vordergrund gestellt werden. Die Sexuallust ist nicht, wie Reich
sagt, ein bewegendes Moment der Geschichte. Reich will aus unsern Jugend-
organisationen Vögelorganisationen machen ! Das ist ein Verbrechen an unserer
Jugend. An die Stelle der Kampferziehung der Jugendlichen will er die Glas-
Wasser-Theorie setzen. Diese Einstellung würde unsere wesentlichen Kampf-
organisationen liquidieren. Warum nimmt die Partei die XYZ noch nicht genügend
ernst? Weil die XYZ infolge der bisherigen falschen, revisionistischen Einstellung
nicht verstanden hat, zur Politik vorzustossen.«
h) Ein leitender politischer Funktionär der KPD
»Wir müssen die Tore unserer Organisation für die Indifferenten weit öffnen.
Dabei müssen wir bei unserm Appell an die Massen anknüpfen an die elende
ökonomische Situation. Wir müssen entschieden der revisionistischen Auffassung
entgegentreten, dass die Sexualität ein geschichtsbildender Faktor ist. Das hat
mit Marxismus nichts zu tun. Warum sollte denn bloss das Ernährungsbedürfnis
und die Sexualität geschichtsbildend sein? Ebensogut könnte man auch sagen,
das Atmungsbedürfnis sei geschichtsbildend. Mit derartigem Zeug lenken wir die
Massen bloss vom Kampf gegen die ökonomische Basis ab! Ungeheuerlich ist
Reich's Behauptung im »Einbruch der Sexualmoral«, dass die Produktivkraft
»menschliche Arbeitskraft« sublimierte Sexualenergie sei.' Damit wird klar aus-
gesprochen, dass der dialektische Materialismus falsch ist. Demnach ist also auch
Marx's »Kapital« sublimierte Sexualenergie. Ebenso ungeheuerlich ist Reich's
Meinung, dass die Sexualverdrängung beide Klassen umfasse. Damit leugnet er
das Bestehen der Klassengegensätze. Am schlimmsten jedoch ist, dass Reich im
»Sexuellen Kampf der Jugend« davon spricht, dass zwischen den Generationen
Gegensätze beständen. Das bedeutet, dass der Klassenkampf in die Familie verlegt
werden soll, statt alle Kräfte für den politischen Kampf gegen Ausbeutung und
Verelendung zu konzentrieren. Auch die Behauptung, dass die Familie ein Boll-
werk der. Reaktion sei, die Ideologiefabrik der bürgerlichen Gesellschaft, bedeutet
67
Sex-Pol-Bewegung
eine Ablenkung yon unsern eigentlichen Aufgaben. Wenn Reich auf das Miss-
verhältnis in unsern Jugendorganisationen zwischen der Zahl der Mädchen und
der Zahl der Jungen hinweist, dann bedeutet das: »Ihr müsst zuerst mal dafür
sorgen, dass in den Jugendgruppen 50 % männliche und 50 % weibliche Mitglieder
sind; erst dann könnt Ihr eine Kampf Organisation werden.« Wir wollen bei uns
theoretische Klarheit.
Die XYZ muss an ihre Aufgaben herangehen von der Voraussetzung, dass die
wirtschaftliche Not in die Sexualfragen einbezogen werden muss. In der heutigen
Zeit ist es unsere Pflicht, die Mauer zwischen uns und den christlichen bzw.
SPD-Arbeitern niederzureissen. Infolgedessen dürfen die sexuellen Fragen nicht
100 % unmittelbar gestellt werden. Die Bücher Reich's sind bewusst oder unbewusst
(ich nehme vorläufig an unbewusst) konterrevolutionär. Während Lenin den
»Ursprung der Familie« eine der besten marxistischen Arbeiten genannt hat,
versucht Reich, wie alle Konterrevolutionäre und Revisionisten, die auf den
Misthaufen der Geschichte gewandert sind, den Marxismus zu korrigieren und zu
verfälschen. Das Z. K. hat unsere Auffassung (er meint seine eigene! Der Ref.)
voll und ganz gebilligt.
Reich hat gewagt, nach eine Jugendkonferenz einzuberufen, in der
haarsträubende Dinge beschlossen worden sind. Mit solchen Sachen hat er ver-
sucht, unsere politische Arbeit zu desorganisieren. Unsere sexualpolitischen Fragen
sind den ökonomischen Forderungen untergeordnet. Wir müssen unsern Auf-
gabenkreis verbreitern. Z. B. müssen wir das Interesse der Frauen für ihre Kinder
ausnützen. Auch die Naturheilbewegung mit ihren 4 — 5 Millionen Mitglieder bietet
uns ein Betätigungsfeld.
Wie unsere Rot-Sport-Bewegung sich die Losung geschaffen hat: »Treibt
Sport, um gerüstet zu sein für den Klassenkampf!«, so muss auch die XYZ sich
eine Losung auf ihrem Gebiete schaffen. Wenn Reich glaubt, in unsern Organisa-
tionen Sexualpolitik treiben zu können, dann irrt er sich. Bei uns wird Politik
getrieben, keine Sexualpolitik! Das alte Jugend-ZK hatte leider den »Sexuellen
Kampf« genehmigt, daraus erwuchsen mir Schwierigkeiten, weil ich Schweigegebot
hatte. Lächerlich ist Reich's Meinung, dass für unsere prachtvolle Jugend die
sexuellen Fragen die gleiche Rolle spielen wie die politischen. Der »Sexuelle
Kampf« ist geradezu eine Bespeiung der proletarischen Mädchen!
i) Mittlerer Funktionär der XYZ in Westdeutschland.
»Wir müssen an die soziale Frage anknüpfen bzw. sie in den Vordergrund
stellen. Im Westen haben wir den »sexuellen Wasserkopf« schon längst über-
wunden. Ganz verheerend haben die Artikel von Annie Reich über die Kinder-
aufklärung gewirkt. Unsere christlichen Mitglieder wären uns alle davon gelaufen,
wenn wir nicht schleunigst damit Schluss gemacht hätten.
Wir haben festgestellt, dass man mit sexuellen Themen Leute bekommt, an
die man sonst nicht herankommt. Nicht bloss christliche Frauen, sondern auch
nationalsozialistische. Wir benutzen jetzt Sexualfragen bloss als Lockmittel und
gehen dann schleunigst zu politischen und wirtschaftlichen Fragen über. Es ist
uns sogar gelungen, zu Aktionen (Demonstrationen) überzugehen.«
j) Eine leitende Funktionärin der XYZ.
»Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man mit sexuellen Themen an noch
nicht erfasste Schichten herankommen kann. In einem kriegswichtigen Betrieb,
der von uns überhaupt noch nicht erfasst war, fanden sich schon bei den ersten
Versammlungen 60 Frauen ein. Auch die Bauernfrauen fangen an, sich ihrer
Sexualunterdrückung bewusst zu werden (Gebärzwang) und beginnen dagegen zu
rebellieren. Wenn wir uns beschränken, bloss den § 218 zu behandeln, fangen
wir schon langsam an, die Leute zu langweilen. Deshalb beziehen wir jetzt auch
andere Fragen ein: Fürsorge, soziale Hygiene, politische und Wirtschaftliche
Probleme. Mit derartigen Fragen lassen sich die Massen viel leichter mobilisieren,
als mit den eigentlich sexuellen! (Vgl. hierzu den ersten Satz. Der Ref.). Gegen
die falsche Theorie Von Reich müssen wir anderes Schulungsmaterial schaffen.
Bis heute steht uns über sexuelle Themen nur typisch bürgerliche Literatur zur
Verfügung. Es ist katastrophal, wie kritiklos selbst gute Genossen Hodann gegen-
überstehen. Der Aufsatz von Reich über die Sowjetehe hat fast unsere Einheits-
frontpolitik gefährdet. Dabei müssen wir wissen, dass selbst in Genossenkreisen
68
I
Sex-Pol-Bewegung
Angst vor der Sowjetehe besteht. Dringend nötig ist eine Politisierung unserer
Bewegung. Wir müssen zu Aktionen liommen.
Es ist völlig unmarxistisch, wie Reich es tut, zu sagen: Der Ursprung der
sozialen Nöte sind die sexuellen Nöte. Die russische Revolution ist auch ohne
Lösung der sexuellen Frage und ohne sexuelle Aufklärung durchgeführt worden.
In unserer Zeitschrift müssen die anatomischen Einzelheiten und unästheti-
schen Nebensächlichkeiten wegfallen. Es ist falsch, in der Schulungsecke die
sexuellen Fragen in den Vordergrund zu stellen. Unsere Mitglieder interessieren
sich mehr für die Strategie und Taktik des Klassenkampfes.«
Die „ er Resolufion"
Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Reich und den bereits mehrfach
«rwähnten Funktionären der KPD spielte diese Resolution eine grosse Rolle.
Ihre Geschichte ist sehr interessant. Darumi muss näher darauf eingegangen werden.
Es hatte sich gezeigt, dass die massgeblichen Funktionäre der KPD der
vorbehaltlosen und konsequenten Sexualbejahung, besonders der puberilen Sexuali-
tät, zähen Widerstand leisteten. Dagegen beweist die Resonanz der populären Bro-
schüren, speziell »Sexueller Kampf« und »Wenn Dein Kind Dich fragt«, sowie
»Kreidedreieck« bei den Mitgliedern der kommunistischen Organisation, dass hier
irennende Fragen Antwort heischten. Aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs,
den deutschsprechenden Teilen der Tschechoslowakei usw. kamen begeisterte
Zuschriften und Bitten um Vorträge. Es war unmöglich den Anforderungen gerecht
zu werden. Ein wichtiges Problem erhob sich: der ausserordentliche Mangel an
geschulten Mitarbeitern. Und vielleicht ist diese Tatsache mit entscheidend ge-
worden, dass es nicht schnell und überzeugend genug gelang, das ZK der KPD
durch eine erfolgreiche Praxis von der Richtigkeit der Reich'schen Sexualtheorie
zu überzeugen. Diese Wahrscheinlichkeit wird fast zur Gewissheit, wenn mau
sich erinnert, dass für uns Marxisten die Praxis untrennbar mit der Theorie
verbunden, die Praxis der Prüfstein einer Theorie ist.
Leider erwies sich immer mehr, dass von den kommunistischen Ärzten infolge
ihrer affektiven Ablehnung der Psychoanalyse (»sie ist eine bürgerliche Ver-
fallserscheinung«) keine Hilfe, sondern nur Feindschaft zu erhoffen war. So
kämpfte eine Handvoll Leute auf ziemlich verlorenem Posten.
Unter den vielen Anfragen, die dauernd einliefen, befand sich eines Tages auch
die Zuschrift eines Genossen aus In seinem Brief berichtete er von dem
Aufsehen und dem grossen Erfolg des »Sexuellen Kampf«. Er wies darauf hin,
dass sich die Leitung der zuständigen Jugendorganisation mit der Broschüre
beschäftigt habe. Es sei beschlossen worden (mit Mehrheit), die Agitation ent-
sprechend umzugestalten und zu diesem Zweck sei eine gründliche Aussprache
zwischen den Funktionären der dortigen Organisation und Reich notwendig. Diese
Aussprache fand statt. Das Ergebnis war u. a. die nachfolgende Resolution.
Leider hatten inzwischen B. und S. hinter den Kulissen bereits »gesiegt«, so dass
der Erfolg dieser Aussprache und der Resolution einzig und allein in der Mass-
regelung der Funktionäre bestand, die gewagt hatten, bei der Politisierung von
Jugendlichen vom wirklichen Leben, vom wirklichen Menschen und seinen Wider-
sprüchen auszugehen. Die Resolution hatte folgenden Wortlaut:
RESOLUTION
beschlossen auf der Konferenz der Vertreter
der proletarisch-revolutionären Jugendorgani-
sationen des U. B am 16. — 10. — 1932.
Die versammelten Vertreter der proletarischen Jugendorganisationen (K. J. V.,
S. A, J.) beschliessen, die Arbeit auf sexualpolitischem Gebiet zum Zwecke breitester
Mobilisierung der werktätigen Jugend in die übrige Arbeit zum Sturze des Kapitals
einzureihen. Sie kamen zur klaren Erkenntnis und waren einhellig der Meinung,
dass die bisherige Vernachlässigung der sexuellen Frage der Jugend sich äusserst
schädlich auf die revolutionäre Arbeit der Jugendorganisationen ausgewirkt hat.
Zerfall der Gruppen, grosse Fluktuation der Mitglieder, politische Passivität usw.
hängen äufs engste mit dem gestörten und ungeklärten Geschlechtsleben der Jugend
zusammen. Diese Verworrenheit und Ungeklärtheit der Geschlechtsfrage der Jugend
69
Sex-Pol-Bewegung
ist selbst eine Folge der kapitalistischen Sexualordnung und steht im Dienste
der Kirche und der herrschenden Klasse zum Zwecke der geistigen Unterjochung
der Jugend aller KrMse. Die sexualpolitische Arbeit als ein wesentlicher Bestand-
teil der revolutionären Arbeit überhaupt, muss sich zunächst auf folgende Punkte
konzentrieren:
1. Klärung der Frage in der Partei und ihren Organisationen selbst. Verbindung
und nicht Trennung der persönlichen und politischen Fragen, d. h. restlose
Politisierung des sexuellen Lebens.
2. Zerstörung des einseitigen Burgfriedens, der auf diesem Gebiete zwischen
Bourgeoisie und Proletariat noch herrscht (nur die Bourgeoisie kämpft auf
allen Gebieten für ihre Interessen), das heisst Kampfansage an die Bourgeoisie
mit den Mitteln der proletarischen Strategie auch auf diesem Gebiete (Aktionen
etwa gegen Sittlichkeitsverordnungen wie der von Bracht usw.).
3. Mobilisierung der Jugend aller politischen Richtungen auf der Grundlage einer
klaren, bejahenden Stellungnahme zum Geschlechtsleben der Jugend unter
Nachweis der Unmöglichkeit, die Voraussetzungen für ein gesundes Geschlechts-
leben im Kapitalismus zu schaffen. Einbruch in die christlichen, national-
sozialistischen, sozialdemokratischen Organisationen durch restlose Aufrollung
der Widersprüche zwischen den Mitgliedern dieser Organisationen und ihrer
Führung.
4. Voraussetzung dazu ist ideologische Klärung der Schwierigkeiten in den revo-
lutionären Jugendorganisationen (Verhältnis der Zahl der Mädels zu der
der Jungens, Heranziehung der indifferenten Jugendlichen von den Tanzböden
mit Hilfe der sexuellen Fragen usw.).
Die Konferenz ist sich der gewaltigen Schwierigkeiten bewusst, die auf diesem
Gebiete zu überwinden sind, aber sie ist ebenso überzeugt, dass die Geschlechts-
frage der Jugend eine der wichtigsten Klassenkampffragen, im Sinne der Mobili-
sierung der Jugend zum Sturze des Kapitals ist, das sie nicht nur hungern lässt,,
sondern ihr das Recht auf ein sexuelles Leben durch Gesetze und Verfolgungen,
sowie Erziehung nimmt und dadurch verelendet. Der reaktionären Sexualpolitik
der Bourgeoisie aller Schattierungen, mit deren Hilfe sie die werktätige Jugend an
das Kapital in Hörigkeit bindet, wie z. B. das Zentrum 1 % Millionen Jugendliche,
muss eine klare, sexualbejahende revolutionäre Sexualpolitik entgegengesetzt
werden, zur machtvollen Verstärkung des Kampfes des Proletariats gegen die
Bourgeoisie, zu deren Sturz und zur Errichtung der Rätemacht, die die brennende
Frage des Geschlechtslebens der Jugend im Rahmen aller Fragen der proletarischen
Revolution lösen wird.
Es lebe die proletarische Revolution !
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Besprechungen
ßespr
)rechungen
Misch, Käthe Dr.:
Die biologischen Grundlagen der Freud'schen Angsitheorie
(Inf. Zfschr. f. Psa. 1935, Heft 1)
Käthe Misch gibt einen Überblick über die Beziehungen der Angst zur Libido-
stauung und zum sympathischen Nervensystem. Sie schreibt: »Ich glaube, durch
die Untersuchungen, deren Ergebnis hier in Kürze folgen, nachweisen zu können,
dass ich einen wenn auch kleinen Schritt weiter in dem Verständnis der
Freudschen Augsttheorie gekommen bin«. »Der Angstanfall ist begleitet von einer
stürmischen Erregung im symphatischen Nervensystem Zur Angst gehört
demnach eine körperliche Komponente, die essentiell zu sein scheint. Die nächste
Aufgabe bestand darin, festzustellen, wodurch die krankhafte Veränderung im
vegetativen System zustande kommt. Wir können nun beweisen, was von vornherein
für den Analytiker nicht unwahrscheinlich war, dass die Sympatikuserregung eine
mehr oder minder direkte Folge einer Libidostauung ist. Bei sexuellen Erre-
gungen, die mit Befriedigung enden, ist der weitere Verlauf der Erregungswelle im
vegetativen System so, dass im Moment des Orgasmus oder schon kurze Zeit vorher,
die Sympatikuserregung umschlägt in eine Erregung des Parasympatikus, um
nach einiger Zeit wieder in den Gleichgewichtszustand überzugehen
Wir haben als eine Entstehungsbedingung der Angst die Libidostauung gefunden.
Bevor wir in der Aufrollung der Angsttheorie weitergehen Ich hoffe den
Beweis erbracht zu haben, dass die Freudsche These, Angst sei die Folge einer Li-
bidostauung, somatisch nachgeprüft werden kann Auch dürfte das genauere
Studium des Zusammenhangs zwischen dem somatischen Phänomen Libido und
der Angst die Handhabung der analytischen Technik nicht unerheblich beeinflus-
sen.« Der Name Reich kommt nicht vor. Hierzu ist zu sagen:
1) Wilhelm Reich hatte bereits 1926 zum ersten Male in seinem Buche »Die
Funktion des Orgasmus« in den Kapiteln »Angst und vaso-vegetativ System« und
»Sexualerregung und autonomes Nervensysteni« dargelegt, dass Sexualität und Angst
entgegengesetzte Erregungen am vegetativen System sind:
»In seiner ersten Publikation über die Angstneurose stützt sich Freud auf den
Tatbestand, »dass in ganzen Reihen von Fällen die Angstneurose mit der deutlich-
sten Verminderung der sexuellen Libido, der psychischen Lust, einhergeht«, und
folgerte daraus, dass »der Mechanismus der Angstneurose. in der Ablenkung
der somatischen Sexualerregung vom Psychischen und einer dadurch verursachten
abnormen Verwendung dieser Erregung zu suchen« sei.
Diese »Ablenkung vom Psychischen« kann nur durch eine Verdrängung der
Wahrnehmung der genitalen Sensationen zustande kommen; sie bedeutet somatisch
nichts anderes, als Aufhalten der Überleitung vom vegetativen ins sensomotorische
System; dabei fällt dem Bewusstsein (dem System Bw. Freuds) offenbar eine
wichtige Rolle zu. Das Bewusstsein beherrscht nach Freud den Zugang zur Moti-
lität. Das Bewusstwerden der Sexualerregung, d. h. des psychischen Anteils der
Libido, der als Sexualwunsch zum Ausdruck kommt, ist eine notwendige Vorbedin-
gung des Empfindlichwerdens der Sexualorgane; dieses entspricht bereits einer
partiellen Überleitung der Erregung ins Sensorische (Lustempfindung), und wir
sehen in der Tat in den Analysen, dass die Angst ansteigt, sobald auch die Wahr-
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Besprechungen
nehmung der genitalen Erregung verdrängt wird, und dass sie nachlässt, wenn
diese geduldet wird. Kommt es nicht zur orgastisch-motorischen Befriedigung,
~ wird die Sexualerregung auch nicht in psychoneurotischen Symptomen gebunden,
so erfolgt gewöhnlich eine neuerliche Absperrung der genitalen Sensibilität und
die Angst stellt sieh samt den vasomotorischen Erscheinungen wieder ein. Freilich
ist diese Angst nicht mehr reine Stauungsangst, sondern sie bekommt auch den
Sinn der »Angst« des Ichs vor seinen sexuellen Bedürfnissen. Doch nimmt mit dem
Grade der NichtWahrnehmung (Verdrängung) der Sexualerregung die Sensibilität
des Genitales ab und die Rückstauung der Erregung ins autonome Nervensystem
zu; diese somatischen Vergänge sind meist durch psychische Hemmungen, z. B.
durch Angst vor dem Koitus, bedingt.«
(Reich : »Die Funktion des Orgasmus«. S. 71.)
»Es bedarf einer kleinen Korrektur an der bisherigen Auffassung der Genese
der Aktualangst. Die Auffassung, dass die vasomotorischen Symptome der Angst-
neurose Freuds nur Angstäquivalente seien, kann zugunsten der anderen auf-
gegeben werden, dass die freiflottierende Angst eine Begleiterscheinung einer be-
stimmten Form vegetativer Irritation der Herztätigkeit ist. Denken wir uns fer-
ner an die Stelle des Nikotins somatische Sexualstoffe, die nicht in physiologisch
korrekter Weise abgebaut wurden, so sehen wir die Ätiologie der Aktualangst klar
vor uns: Die Libidostauung bedingt eine Irritation des vaso-vegetativen Systems
in Form der Herzneurose, die immer im Zentrum der angstneurotischen Symto-
matologie steht; die Angst geht wie bei der Nikotinvergiftung, beim Basedow,
bei der Angina pectoris unmittelbar aus der Irritation der Herztätigkeit hervor
und das Problem der Verwandlung von Libido in Angst fällt weg.« (1. c. S. 66.)
»Wir sehen ferner, dass die wichtigsten automatischen Funktionen bei den
vorbereitenden Sexualakten vom vasovegetativen System bestritten werden, so die
Vasodilation bei der Erektion, die Sekretion der Bartolinischen Drüsen beim
Weibe und die allgemeine Durchblutung der Genitalien. Man kann nun sagen,
dass die Sexualerregung bei der Erwartungslust (analog wie bei der Erwartungs-
angst) zunächst das kardiale Sgstem auf dem Wege vegetativer Innervation erfasst,
sich aber im weiteren Verlaufe, sofern keine Hemmungen vorliegen, auf das
genitale Organsystem verschiebt und dadurch das kardiale entlastet.«
2) Käthe Misch konnte ihr Cholinexperiment erst anstellen auf Grund der
Reichschen Auffassung, dass die Libidostauung überhaupt ein Ausdruck einer
vasovegetativen Erregung ist.
Reich hat das Cholinexperiment in seiner Arbeit über den »Urgegensatz des
vegetativen Lebens« 1934 ausführlich zitiert und in seine Theorie vom Libido-
Angst-Gegensatz eingebaut. Käthe Misch zitiert aber nicht die Quelle der Theorie,
auf deren Grund sie ihr Experiment ausführte.
3) Ihre heuristische These über die Verwertbarkeit der neuen Angsttheorie
für die Technik kommt reichlich spät, denn Wilhelm Reich hat in vielen Jahren
klinischer Arbeit gerade diesen Gesichtspunkt für die Theorie der charakteranaly-
tischen Therapie und ihrer Technik praktisch befriedigend durchgeführt. Vgl.
»Charakteranalyse« (II. Kapitel).
4) Freud hat seine ursprungliche Theorie der Angst aufgegeben. Es kann
also nicht gesagt werden, dass das Misch'sche Experiment »die Fr^udsche Angst-
theorie bestätige«: »Die Frage, aus welchem Stoff die Angst gemacht wird, hat
an Interesse verloren Nicht die Verdrängung schafft die Angst, sondern die
Angst ist früher da, die Angst macht die Verdrängung Dass es die Libido selbst
ist, die dabei in Angst verwandelt ist, werden wir nicht mehr behaupten.« (Freud
»Neue Vorlesungen« S. 118, 119, 130.)
5) Käthe Misch, deren wissenschaftliche Qualitäten wir hoch einschätzen, ist
der so peinliche Unfall passiert, eine längst erarbeitete wissenschaftliche Theorie
über die Angst ohne Zitat des Autors dieser Theorie, die sie sehr wohl kennt, in
dieser Weise neu zu entdecken. »Wir erkennen in der Sympatikus-Gruppenwirkung
die Angst, in der Vagus-Gruppenwirkung die Sexualerregung wieder.« So fasste
Reich seine Auffassung in »Der Urgegensatz« zusammen. Den Inhalt dieser Ar-
beit hatte Reich Käthe Misch zu Weihnachten 1933 ausführlich vorgetragen. Ebenso
hatte Reich mit Käthe Misch anlässlich ihrer Experimente in Berlin ausführliche
Besprechungen über seine Angsttheorie.
6) Die Bedeutung dieser peinlichen Af faire liegt in folgendem: Käthe Misch
stand am 13. Psa. Kongress und auch nachher unter dem Drucke der Hetze die
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Besprechungen
gegen Reich geführt wurde. Sein Name durfte offenbar nicht genannt werden.
Doch die Sache betrifft mehr als bloss ein Plagiat. Hätte Käthe Misch die Reich-
sche Fortführung und Umgestaltung der Freudschen Annahme aus dem Jahre 1895,
nachdem diese von Freud selbst fallen gelassen worden war, im Sinne der kor-
rekten naturwissenschaftlichen Arbeit ohne Zitierung aufgenommen; hätte sie
dann, wie Reich es tat, aus den Zusammenhängen zwischen Sexualität und Angst,
•beider zum autonomen Nervensystem und der Funktion des autonomen Nerven-
systems zur Funktion der gesellschaftlichen Sexualunterdrückung, der Religion,
des Mystizismus, der faschistischen Ideologie etc. die korrekten Konsequenzen
gezogen, so wäre nicht viel daran gelegen gewesen, das Verfügungsrecht über
die genannte Theorie aufs schärfste zu vertreten. Es geht nicht an, dass der Autor
einer Theorie, die notwendigerweise zu revolutionären Konsequenzen führt. Von
einer angeblich objektiv wissenschaftlichen Organisation ausgeschlossen, verleum-
det, als Mitglied im Stich gelassen wird, dass er, wegen der korrekten Durchfüh-
rung revolutionär wissenschaftlicher Anschauungen von der politischen Reaktion
aufs schärfste verfolgt wird, während sich ein anderer Wissenschaftler aus der
ganzen gefährlichen Arbeit nur die Rosinen herausholt. Wer die Ehre bean-
sprucht, das Libido-Angst-Problem als Wissenschaftler zu bearbeiten und einer
Lösung zuzuführen, der muss es auch riskieren, all das auf sich zu nehmen, was
korrekte, unbeirrbare wissenschaftliche Arbeit in der heutigen Zeit an Gefahren
notwendigerweise mit sich bringt.
Das Käthe Misch dem Druck in so horrender Weise nachgab, ist sehr be-
klagenswert. E. P.
Blumenfhal, Ferdinand, Prof, Dr.:
Ergebnisse der experimentellen Krebsforschung und Krebstheraphie
(A. W. Sijthoffs Uifgeversmaatschappi, N. V., Leiden 1934, 172 S.)
Hier liegt eine ausserordentlich gute, klare und übersichtliche Darstellung
des Krebsproblems vor, die nicht nur den Krebsforscher, sondern jeden physio-
logisch und biologisch Interessierten beschäftigen muss. Für den Sexualökonomen
wichtig ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Krebswucherung, Quellung,
Glykose und der Wirkung von Kalium und Galzium auf die Krebsgeschwulst.
Allgemein scheinen derzeit die wichtigen von den nebensächlichen Auffassungen
über den Krebs noch nicht genügend differenziert zu sein; die Krebsforschung
scheint auch noch nicht die Phase erreicht zu haben, in der alles nach einer
Richtung zu weisen beginnt. E. G.
Reiss, Hermann, Dr.:
Versuch einer mechanistischen Analyse des Seelen- und Nervenslebens
(Crundzüge einer Psycho-Neurophysik)
Kommissionsverlag Kienreich, Graz-Leipzig (145 S.)
Ein ganz vorzügliches, vorteilhaft von der offiziellen physiologischen Literatur
abweichendes Werk. Es führt an Hand reichlichen Tatsachenmaterials den Nach-
weis, dass die Nerventätigkeit völlig analog ist der Arbeit elektromotorischer
(galvanischer) Ketten. Wer sich gründlich Kenntnisse über das Problemgebiet
der Bioelektrizität aneignen will, lese es !
Eine detaillierte Besprechung heben wir uns für eine besondere Gelegen-
heit auf. X
March, Lanval: La Sterilisation sexuelle
(Edition du Laurier, Bruxelles)'
Es lässt sich viel Vernünftiges sagen zugunsten der Sterilisierung solcher
Menschen, die am liebsten keine Kinder zeugen sollten, speziell zugunsten
einer freiwilligen Sterilisierung. Das Beste wäre, wenn die Gesetzgebung sich
darin überhaupt nicht einmischen würde. Zu einer wirklichen sexuellen Befreiung
gehört es auch, dass jeder Mensch, der aus irgend einen Grund eine Sterilisierung
wünscht, die Möglichkeit haben sollte, diese Massnahme durchzuführen.
Das vorliegende Buch enthält, ausser einer Beschreibung des Unterschiedes
zwischen Sterilisation und Kastration, leider sehr wenig Vernünftiges, aber dafür
um so mehr Unsinniges.
Trotzdem das Büchlein von einem Kreise stammt, der sich in die Front der
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Besprechungen
revolutionären Arbeiterbewegung stellt, scheint der Verfasser sehr imponiert zu
sein durch Hitler'% Initiative in der Sterilisationsfrage. Er hat offenbar nicht
verstanden, dass das deutsche Sterilisationsgesetz nur der Reaktion und der Rassen-
theorie der Nazi's dient.
Sterilisierung ist nach Lanval's Ansicht notwendig bei Syphilis und Alko-
holismus, die als Ursachen der Epilepsie und Idiotie dargestellt werden sowie
auch als Ursachen der Perversionen, wie Sadismus, Nekrophilie, Sodomie usw.
Auch bei Inzest und Homosexualität empfiehlt er Sterilisierung.
Zum Schluss nähert sich Lanval dem soziologischen Gebiet, indem er Über-
völkerung und Krieg mittels Sterilisation abschaffen will.
Schade, dass von sonst wohlwollender Seite solcher Unsinn produziert wird!
L.
(Friedrich Mann's Pädagogisches Magasin XII. Reihe Rasse, Heff 7)
Goddard, Herbert: Die Familie Kallikak
Die Rassenhygiene ist höchste Mode im nationalsozialistischen Deutschland.
Der Büchermarkt wird überschwemmt von Werken dieses Themas. Viele von den
altbewährten klassischen eugenischen Arbeiten erscheinen in neuer Auflage, dar-
unter die bekannte amerikanische Schrift: Die Familie Kallikak.
Die Geschichte dieser schwachsinnigen Familie ist wirklich sehr interessant
und die Schilderung scheint auf sorgfältigen Untersuchungen aufgebaut zu sein.
Leider sind die wissenschaftlichen Beobachtungen derartig mit moralischen Aus-
führungen vermischt, dass die wissenschaftliche Zuverlässigkeit dadurch getrübt
wird.
Völlig richtig sagt Goddard: »An erster Stelle steht die Schwierigkeit, fest-
zustellen, welche Menschen denn eigentlich schwachsinnig sind.«
Der Leser fühlt sich nicht ganz sicher, dass Goddard in der Beziehung der
richtige Beurteiler ist, wenn er zum Beispiel Unehelichkeit und »Unsittlichkeit«
als Kriterien des Schwachsinns darstellt. Ein Mitglied der »schlechten« Linie
nennt er: »Verführer in sexueller Hinsicht, was allein schon einen schlechten
Charakter ausmacht.« Von einem anderen wird gesagt: »Allerdings normal, aber
recht locker in seinen sittlichen Ansichten.« Von zwei Frauen: »Keine dieser
Schwestern widersetzte sich je der zeremoniellen Eheschliessung, wenn sie ihnen
angetragen wurde. Sie schienen aber nie an deren Notwendigkeit gedacht zu haben,
wenn sie mit irgend einem Manne zusammenlebten.«
Von der normalen »edlen« Linie der Familie Kallikak wird gesagt: »Unter
ihnen finden sich keine schwachsinnigen, keine unehelichen Kinder, keine unsitt-
lichen Weiber, kein einziger sexuell liederlicher Mann.« Und: »Die alte Bibel
Casper Kallikaks, ein Familienerbstück, befindet sich im Besitze von Hochwürden
Herrn , der von Casper auf der Linie einer seiner Töchter abstammt. Diese
Bibel war 1804 gekauft und befindet sich noch in ausgezeichnetem Zustand.«
Von einer anderen Familie Edwards wird gesagt: »Sie ging von einem starken,
frommen und trefflich erzogenen Vorfahren aus« usw.
Die Erbbedingtheit des Schwachsinns wird dadurch sehr anschaulich, dass
unter 480 Dezendenten der schlechten Linie die Meisten schwachsinnig, Prosti-
tuierte, Alkoholiker usw., während die 496 Angehörigen der edlen Linie alle
normale und tüchtige Menschen sind.
Selbst davon abgesehen, dass Goddard Unehelichkeit, Unsittlichkeit und Sy-
philis als ein Zeichen von Schwachsinn auf eine Linie stellt mit Alkoholismus,
Kriminalität, Epilepsie und Wahnsinn, muss man zugeben, dass aller Wahrschein-
lichkeit nach biologische und erbbedingte Faktoren eine grosse Rolle spielen für
das äussere Schicksal der Angehörigen der zwei Linien der Familie Kallikak.
Ähnliche Ergebnisse hat Richard Dugdale über die Familie Jukes schon im
Jahre 1877 veröffentlicht. Dr. Winship hat es unternommen, diese Familie zu
vergleichen mit den Dezendenten Jonathan Edward's und hat aus diesem Vergleich
ähnliche Schlüsse gezogen. Nun behauptet aber Goddard, die Ergebnisse aus der
Familie Kallikak seien viel wertvoller, weil die zwei Familien Jukes und Edwards
durchaus unabhängig waren und zudem unter ganz verschiedenen Bedingungen
lebten. Im Gegensatz dazu stammen die zwei Linien der Kallikak's von demselben
Stammvater, Martin Kallikak sen.
Goddard schreibt: »Wir haben hier also ein natürliches Experiment von ganz
beträchtlichem Werte für den Soziologen wie für den Hereditätforscher.« Seine
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Besprechungen
moralischen Betrachtungen erreichen den Höhepunkt, wenn er die Familie Kallikak
schildert: »Vier Generationen hindurch bewahrte sie sich eine ehrenvolle und
angesehene Stellung, auf die sie mit Recht stolz war. Dann tritt ein Sprössling
dieser Familie in einem unbewachten Augenblick abseits von den Pfaden der
Rechtschaffenheit und begründet mit einem schwachsinnigen Mädchen eine Linie
geistig defekter Individuen, die wirklich erschreckend ist. Nach diesem Versehen
kehrt er zur Tradition seiner Familie zurück, heiratet eine Frau seiner eigenen
Güte i/nd begründet mit ihr ein Geschlecht von genau dem gleichen ehrenvollen
Ansehn wie das seiner Vorfahren.«
»Der Lebenslauf Martin Kallikaks sen. ist eine gewaltige Anklage gegen
derartige Jugendstreiche, wie er sie begangen. M. K. tat, was unseligerweise viele
junge Leute vor ihm und nach ihm auch taten, und wozu noch unseligerweise die
Gesellschaft zu oft nur mit den Augen gezwinkert hat.«
— — — »Jetzt, wo die Tatsachen bekannt sind, muss sich ihre Lehre uns
einprägen, muss uns die Anklage entgegengeschleudert werden, muss sie wirken
auf unsere jungen Männer aus guten, Familien, damit sie nicht für einen einzigen
Augenblick auf Abwege zu gehen wagen !«
Der nüchterne Leser muss sich fragen: Wie ist es möglich, dass ein Mann, der
in seiner Ehe Stammvater einer in jeder Hinsicht »edlen« Familie wird, ausserdem
eine Familie von lauter Verbrechern, Prostituierten, Schwachsinnigen usw. gründet?
Hat das »edle« Erbgut von seiner Seite dann überhaupt keine Bedeutung??
Goddard scheint der Ehe selbst eine fast mystische biologische Bedeutung zu-
zuschreiben. Er nennt die zwei Familien den »ehelichen Zweig« und den »uneheli-
chen Zweig«. Damit können wir uns natürlich nicht einverstanden erklären. Wir
müssen einen Beweis fordern dafür, dass der »edle Jüngling« Martin Kallikak sen.
wirklich der Vater des M. K. jun. war, von dem die schwachsinnige Linie ausgeht.
Goddard's Beweis für die Vaterschaft des M. K. sen. ist — dass er als Vater
des Kindes eines namenlosen schwachsinnigen Mädchens eingetragen wurde ! !
Goddard schreibt: »Es ist ganz gut möglich, dass M. K. selbst niemals ernsthaft
über diesen seinen Akt nachgedacht hat.«
Hat Dr. Goddard denn niemals »ernsthaft darüber nachgedacht«, dass es völlig
unsinnig ist, zu glauben, dass M. K. wirklich der einzige Mann war, der mit diesem
namenlosen schwachsinnigen Mädchen einen Geschlechtsverkehr gehabt haben
kann; und dass die Tatsache, dass Martin Kallikak jun. »mit einer normalen Frau«
fast lauter schwachsinnige Kinder erzeugte, nach den Erbgesetzen, die Goddard
sonst so hoch schätzt, absolut dagegen spricht, das M. K. sen. wirklich der Vater
des M. K. jun. war??
Diese Art der »Wissenschaft« ist wirklich zu unmöglich! Das »natürliche
Experiment, das eine ebenso lehrreiche wie erstaunliche Geschichte erzählt«, ist
wahrscheinlich so zustande gekommen, dass ein »namenloses schwachsinniges
Mädchen« noch so viel Schlauheit besass, dass sie unter ihren Liebhabern den
besten Geldspender als Vater ihres Kindes eintragen Hess.
Die Familie Kallikak ist ein weltberühmtes Werk und eine der Hauptstützen
der eugenischen Bewegung. Wie steht es wohl mit der wissenschaftlichen Qualität
und Zuverlässigkeit anderer ähnlicher Werke?? L.
Forel, August: Rückblick auf mein Leben
(Europa-Verlag, Zürich, 1934. 295 S.)
August Forel wird mit Recht der Vater der modernen Richtung in der
Sexuologie genannt. Das geht aus keinen seiner Werke so sehr hervor \vie aus
der vorliegenden ausführlichen Selbstbiographie. Sie enthüllt uns Heutigen die
Schwierigkeiten, die der Sexualforschung im vorigen Jahrhundert entgegenwirkten,
derart eindringlich, dass wir bescheidener werden, wenn wir an die Hemmnisse
denken, die wir zu bewältigen haben. Foreis Weg zur sozialistischen Welt-
anschauung bezeugt eine Festigkeit der wissenschaftlichen Gesinnung, um die ihn
viele Wissenschaftler, die heute Grosses zu bewältigen hätten, beneiden dürfen.
Wir empfehlen das Buch allen, die die heutigen Verhältnisse aus den früheren
hervorgehen sehen wollen, die an das Monstrum »bodenlose und unpolitische
Wissenschaft« glauben, die aus der Wissenschaft eine angenehme Bridgepartie
am warmen Herd machen wollen. Forels letzte Worte im Testament lauten; »Wir
Tote können die Vergangenheit nicht mehr ändern; ihr Lebende könnt die Zukunft
gestalten. Mut also und ans Werk!« ' ; Wilhelm Reich, i
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Besprechungen
Die Tragik der Infellektuellen in der politischen Revolution
Aus „Frauen und Mönche", Roman von Josef Kallinikow
Ein Gespräch zwischen Kirill Kirillowitsch Drakin, Ingenieur, Grossindustrieller,
ehemaliger Matador der Kleinstadt, und Nikodim Alexandrowitseh Petrowskij,
ehemaliger Hauslehrer bei Drakin, jetzt Gouvernementskommissar, Vertreter
der Revolutionsregierung.
Drakin schritt wieder im Zimmer auf und ab und atmete den Rauch des
Bauerntabaks ebenso tief ein wie früher den des englischen. Er hörte zu, ohne
zu widersprechen, war sich irgendwo tiefinnen der Wahrheit von Petrowskijs
Worten bewusst; er empfand, dass Entgegnungen unwahr geklungen hätten, wollte
sich aber seine Hilflosigkeit nicht eingestehen.
»Sie, Kirill Kirillowitsch, haben sich von den Intellektuellen abgewandt, was
aber haben Sie getan, um sich dem einfachen Volke anzuschliessen? ! Es ist
schmerzlich, sich seine Fehler einzugestehen, doch es wäre besser, dies jetzt zu
tun als nachher, wenn das Volk sich von Ihnen abwendet, Sie über Bord wirft,
erklärt: Unsere Macht und Freiheit lässt neue Menschen entstehen, Menschen
einer neuen Kultur, unnützen Ballast brauchen wir nicht ... Sabotieren nicht die
Intellektuellen, die die Revolution herbeigesehnt haben, diese Revolution, nun
sie da ist, und nehmen dadurch Teil an der Vernichtung von Werten, die Buckel
und Hände des Volkes geschaffen haben? Sie, Kirill Kirillowitsch, haben die Leute,
die heute an der Macht sind, finanziell unterstützt: Warum gehen Sie denn jetzt
nicht hin und arbeiten zusammen mit ihnen?«
Der Ingenieur klopfte seine Pfeife am Kaminsims aus. Die weisse Asche fiel
in einem Klümpchen zu Boden; seine Blicke folgten dem Fall, und als das weisse
Klümpchen ohne zu zerschellen über den Fussboden rollte, richtete Drakin sich
auf und begann zu sprechen — als hätte alles davon abgehangen, ob das Aschen-
klümpchen zerschellen würde oder nicht.
»Sie kennen das Gefühl der Bitternis nicht, das mich in diesen Tagen erfüllt,
Petrowskij. Ja, ich habe unsere Revolutionäre, die Emigranten, bewusst unter-
stützt, um der Zukunft willen, als aber diese Zukunft Gegenwart wurde, überkam
mich ein quälendes Gefühl.
Wenn man einem lichten Ziele zustrebt, so sieht man vor allem das Ender-
gebnis, das verwirklichte Traumbild, und denkt nicht an den Weg, der dazwischen
liegt, der durchschritten werden muss — vielleicht über Trümmer und durch
scheinbare Vernichtung von Werten hindurch ... Und vielleicht liegt gerade hierin
die Tragik unserer Intellektuellen. Die Endziele der Revolution, die revolutionäre
Demokratie, ihre Rolle beim Neuaufbau, das alles stand ihnen klar vor Augen,
und sie dachten, man brauche diese Gedanken, die ihr eigentlicher Lebensinhalt
waren, vor dem revolutionären Volke bloss zu entwickeln, damit dieses sie sich
zu eigen mache und hinter den Intellektuellen als folgsame Hammelherde hertrabe,
endlos zu geduldiger Langmut und edler Selbstbeschränkung bereit. Wenn aber
diese Herde einmal vom lebendigen Wasser genossen hat, lässt sie sich nicht mehr
von der Quelle drängen, sie fordert, sofort und unverzüglich, das Unmögliche, das
Unerfüllbare, und zieht, Hunger und Durst stillend, wie eine Hunnenhorde durch
das eigene Land, alles, worauf sie auf ihrem Weg stösst, ohne Bedenken und
hemmungslos zerstampfend und vernichtend.«
»Und da haben Sie einen Schreck gekriegt vor dem Volk, vor seinem mit
Elementargewalt dahinbrausenden Zug nach Endzielen?«
»Ja, als nur diese Endziele vor Augen lagen, war alles klar und deutlich, als
nun aber die Bewegung dahin und die Vernichtung von allem und allen einsetzte,
da versagte einem die Kraft, dies anzuerkennen, sich damit als einer unabwend-
baren Notwendigkeit abzufinden, und hierin liegt das tragische Los unserer
Intellektuellen. Ich laufe all diese Tage endlos in meinen vier Wänden auf und
ab und suche mir das alles zurecht zu reimen. Ich habe mich von den Intellek-
tuellen, die immer nur träumen und idealisieren, abgewandt; aber ich vermag
diese Bewegung nicht von innen heraus zu durchdringen, sie mir zu eigen machen,
diese Bewegung des revolutionären Volkes, das blindlings zerstört, was ich gestern
durch meine Arbeit geschaffen habe und was heute von jenen vernichtet wird,
um derentwillen es geschaffen wurde! Ich verstehe, dass sie heute die Herren
sind, aber meiner alten Rolle entsagen, die mich zu dem gemacht hat, was ich
bin, kann ich nicht ... Ich will das nicht leugnen, ich fürchte mich nicht, das
einzugestehen, kann aber diese Last noch nicht abschütteln.«
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Besprechungen
»Wird es aber für Sie und unsere Intellektuellen überhaupt nicht noch viel
schwerer und tragischer sein, wenn diese Elementargewalt, diese Herde, die gierig
an den Quellen eines neuen Lebens saugt, aus sich heraus neue Männer her-
vorbringt, sie an die Spitze stellt und nun mit Vorbedacht jenen Zielen zustrebt,
während Sie und andere, umgangen, mit leeren Händen zurückbleiben, hilflos und
untätig, unfähig, diese Elementargewalt, diesen neuen Vormarsch zu verstehen?
Wenn ohne euch an dem neuen Leben gebaut wird, neue Werte geschaffen werden,
ihr aber wie Gelähmte nutz- und tatenlos dahinsiecht, dem Volke fluchend, das
euch umgangen hat, obgleich ja das Volk gar nichts dafür kann? Hierin liegt
die Tragik der Intellektuellen, auch Ihre. Je früher Sie sich uns anschliessen,
desto besser für Sie. Eigentlich bin ich deshalb heute zu Ihnen gekommen. Heute
nehmen wir willig jeden auf, der die revolutionäre Bauarbeit mit uns teilen will.
Ich schätze Sie hoch und will es darum vor Ihnen nicht verheimlichen, dass wir
nur wenige Helfer haben und darum jeden willkommen heissen, der bereit ist,
aufrichtig unserer Idee zu dienen und sie zu verwirklichen. Sie müssen sich die
Bürde und Verantwortlichkeit unserer Stellung einmal richtig vorstellen. Wir
sind jetzt an der Macht, und unsere Macht muss wirklich eine sein, wir schrecken
darum vor nichts zurück; morgen aber, wenn wir erstarkt sind, dann finden wir
schon genug Leute, schaffen, erziehen sie uns, und dann ist es für Sie zu spät!«
Drakin ging auf und ab und blickte Petrowskij finster an.
»Man würde mir nicht trauen, ich bin Kapitalist, Fabrikbesitzer.«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, alles hängt von Ihren Taten ab.«
Seven Gothic Tales by Isak Dinesen
(Harrison, Smith & Robert Haas, New York)
Den grossen Erfolg, den dieses Buch (a»best seller«) in Amerika erreicht
hat, versteht man erst, wenn man selbst unter dem Banne des Zaubers steht,
der von dem Buch ausgeht.
Der äussere Bahmen dieser fantastischen Erzählungen sollte eigentlich ab-
schrecken. Der Zeitpunkt liegt 50 — 100 Jahre zurück und alle Personen gehören
der höchsten Aristokratie an. Dieser Bahmen hat es aber dem Verfasser ermöglicht,
Gedanken zu äussern, die sonst kaum die Zensur hätten passieren könnnen, weder
die Zensur des puritanischen Amerikas noch jenen strengen Zensor, den jeder
Mensch in seinem eigenen Innern trägt. Hier hat der künstlerische und witzige
Stil, den der Verfasser so glänzend beherrscht, vielleicht eine noch grössere
Bedeutung.
Blasphemie und Spott werden mit einem Witz und einer Eleganz herausgestellt,
die man sonst nur bei Anatole France findet, die Fantasie kann der Selma Lagerlöf's
und Edgar Poe's an die Seite treten, die Darstellungskunst bringt Boccaccio in
Erinnerung. Übrigens ist die Autorin, die sich hinter einem männlichen Pseudonym
versteckt, durch und durch original.
Sie scheint völlig diejenige Technik zu beherrschen, die nach Freud's Analyse
die Wirkung des wirklich guten Witzes auf Leser und Zuhörer bedingt. Diese
Wirkung besteht in einer Erlösung verpönter und verdrängter Wünsche, die im
Unbewussten jedes Menschen so tief verborgen liegen, dass sie sonst nie die
Zensur passieren und ins Bewusstsein gelangen können.
Isak Dinesen ist völlig respektlos, nicht nur der Moral und Religion, sondern
auch aller Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit gegenüber. Zum Beispiel wird
ein Rendezvous zwischen einem Schwesterpaar und einem längst gestorbenen
Bruder als etwas Selbstverständliches geschildert, worüber sich keiner wundert.
Auf diese Weise wird der Leser zurückgeführt zu den Träumen und Fantasien
seiner frühesten Kindheit, die für viele Menschen das verlorene Paradies bedeutet,
nach dem sie sich immer sehnen.
Jeder Versuch, eine Übersicht über Seven Gothic Tales zu geben, muss scheitern.
Jeder, der die englische Sprache beherrscht, sollte sich den Genuss gönnen, das
Buch zu lesen ! ^
D. H. Lawrence: Lady Chatterley's Lover
(The Odyssey Press, Paris)
M. J, Farrell: Devoted Women
(Tauchnitz Edition, Leipzig)
Lawrence hat mehrmals vergebens versucht, seinen Boman öffentlich er-
scheinen zu lassen, ohne die Stellen aus dem Buche entfernen zu müssen, die
77
Besprechungen
eine offene und unverhüllte Schilderung des Geschlechtslebens der Hauptpersonen
darstellen. Dreimal hat er sein Manuskript umgearbeitet, ohne die Erfülluiig
seines Wunsches zu erreichen. Nur eine sehr verstümmelte (sozusagen kastrierte)
Ausgabe ist in England erschienen.
Nach dem Tode des Verfassers ist eine Ausgabe, wie der Verfasser sie ge-
wünscht hat und zu einem billigen Preis (18 Fr.), in Paris herausgegeben worden.
IHese Ausgabe darf nicht in England und U. S. A. eingeführt werden.
Warum wird Lamrence's Roman als so gefährlich angesehen, dass daii
Heimatsland des Verfassers ihn nicht zulassen will?
Jedenfalls nicht wegen seiner sozialer Tendenz; eine solche gibt es überhaupt
nicht. Wie in so vielen anderen englischen Romanen gehören fast alle Personen der
wohlhabenden Bourgeoisie an. Es passiert in diesem Buche nichts, das die
Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft erschüttern könnte. Weder die Ehe, noch
die Moral scheinen gefährdet zu werden. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass
man von den Mitgliedern der herrschenden Klasse nicht fordert, dass sie die
Regeln der bürgerlichen Moral streng einhalten sollen. Als zu gefährlich kann
es wohl auch kaum angesehen werden, dass Lady Chatterley ein Liebesverhältnis
eingeht mit dem Waldhüter ihres Ehemannes, mit einem Menschen, der ihr
ehrerbietiger Diener sein sollte.
Das, was empfindliche englische Ohren nicht vertragen können, sind die sehr
realistischen Darstellungen dieses Liebesverhältnisses und die absolute Bejahung
der genitalen Sexualität, die nicht den geringsten Platz für eine sexualfeindliche
Moral übrig lässt. Selbst die Schamhaftigkeit, die sonst die letzte Schanze ist,
die die Moral behält, muss hier gegenüber der elementaren Kraft des gesunden
Geschlechtstriebes völlig kapitalieren :
»In the Short summer nicht she learnt so much. She would have thougt a
woman would have died of shame. Instead of which, the shame died. Shame,
which is fear: the deep organic shame, the old, old physical fear, which couches
in the bodily roots of us, and can only be chased aw,ay by the sensual fire, at
last it was roused up and routed by the phallic bunt of the man, and she came
to the very heart of the jungle of herseif, she feit, now, she had come to the
real bed-rock of her nature, and was essentially schameless. She was her sensual
seif, naked and unashamed. She feit a triumph, almost a vainglory. So ! That
was how it was ! That was life ! That was how oneselt really was ! . There was
nothing left to disguise or be ashamed of. She shared her ultimate nakedness
with a man, another being —
And how, in fear, she had hated it. But how she had really wanted it !
She knew now. At the bottom of her soul, fundamentally, she had needed his
phallic hunting out, she had secretly wanted it, and she had believed that she
would never get it. Now suddenly there it was, and a man was sharing her
last and final nakedness, she was shameless.«
In Übersetzung:
»In der kurzen Sommernacht lernte sie so viel. Sie hätte gedacht, dass eine
Frau vor Scham gestorben wäre. Statt dessen starb die Scham. Scham, die Furcht
ist: Die tiefe, organische Scham, die alte, alte physische Furcht, die sich in
die Wurzeln unseres Körpers schmiegt, und nur durch das sinnliche Feuer verjagt
werden kann. Zum Schluss wurde sie aufgescheucht und niedergeschlagen durch
die phallische Jagd des Mannes und Lady Chatterley erreichte das eigentliche Herz
des Dschungels ihrer selbst. Sie fühlte, dass sie nun zum wahren Felsgrund
ihrer Natur gekommen war und war durch und durch scbamlos. Sie war ihre
Sinnlichkeit selbst, nackt und ohne Scham. Sie fühlte einen Triumph, fast einen
Hochmut. So! Das war, wie es war! Das war das Leben! Das war, wie man
selbst wirklich war! Da war nichts übrig, es zu verbergen oder sich dessen zu
schämen. Sie teilte ihre äusserste Nackheit mit einem Mann, einem andern
Wesen
Und wie hatte sie es, als sie noch Furcht hatte, gehasst. Aber wie hatte sie
es in Wirklichkeit gewünscht ! Nun wusste sie es. In der Tiefe ihrer Seele,
grundsätzlich hatte sie dieses phallischen Hinausjagens bedurft, sie hatte es im
Geheimen gewünscht und sie hatte geglaubt, dass sie es niemals erreichen würde.
Nun plötzlich war es da, ein Mann teilte ihre letzte und endliche Nacktheit,
sie war schamlos.«
Diese rückhaltslose Bejahung der genitalen Sexualität, ohne den kleinsten
Versuch einer romantischen Ausschmückung, muss für die bürgerliche Gesellschaft
78
Besprechungen
untragbar sein. Ausser dem Wert als literarisches Kunstwerk erhält Laivrence's
Buch dadurch einen grossen Wert für diejenigen, die die Sexualität bejahen und
die Hemmungen beseitigen wollen, die Hemmungen, die verhindern, dass die
Sexualität der Menschen ihre elementare revolutionäre Kraft entfaltet.
Auch die gegenseitige Kontaktlosigkeit der sexualgehemmten Menschen wird
von Lawrence sehr eindrucksvoll geschildert.
Diese Kontaktlosigkeit wird auch in Devoted Ladies von Farrell ganz gut
dargestellt. Auch in diesem Buche gehören die Personen der reichen Oberschichte
der englischen Gesellschaft an. Sie besitzen alle notwendigen äusseren Bedingungen
für ein freies, glückliches und genussvolles Leben. Dennoch treiben sie ohne
Kontakt mit einander und der Umwelt planlos durch das Dasein herum und
kämpfen mittels Alkohol und genussloser, zerrütteter Erotik gegen das unbesiegbare
Gespenst der Langweile.
Die englische »Society« ist vielleicht die Schicht der gesamten Menschheit, wo
die Konventionalität und die Kontaktlosigkeit in höchster Reinkultur zu finden ist.
Der Roman endet mit einer romantischen — unter Alkoholeinwirkung voll-
brachten — Selbstaufopferung einer liebenden — und hassenden — Frau. L.
Willi Bredel: .Die Prüfung" (Roman aus einem Konzentrationslager)
Malik- Verlag, 1935. 386 S.
Ein ausserordentlich gutes Buch. Es ist gerade deshalb gut, weil es nicht
schwarz und weiss zeichnet, d. h. den Revolutionär in hellstem Licht und seinen
Bedrücker, der aus der gleichen Klasse stammt, als leibhaftigen Teufel malt.
Aus der Schilderung der Verhältnisse in den Konzentrationslagern geht ein-
deutig hervor, wie sehr sich brutalster Sadismus der Gefangenenaufseher in den
Dienst einer Idee stellt, von der jeder der Sadisten zutiefst überzeugt ist, dass
sie den deutschen Sozialismus versinnbildlicht.
Bredel war selbst 13 Monate gefangen und man merkt es der Darstellung an,
dass es nicht Greuelmärchen sind, sondern groteske furchtbare Wirklichkeiten.
Das Buch sollte unbedingt jeder lesen, der mehr will, als bloss die üblichen
Schilderungen der Quälereien von Gefangenen noch einmal zu hören. Er wird
reichlich Probleme und Fragen finden, deren Beantwortung uns um ein erhebliches
Stück weiter im Verständnis der nationalsozialistischen Ideologie bringen würde.
So z. B. wird man sich fragen, wie es möglich ist, dass das Leben draussen seinen
alltäglichen Gang weitergeht, während sich in einem Gebäude mitten in diesem
Leben derartiges Leiden und derartige Marter abspielen. Wieviele von den 60
Millionen erwachsener deutscher Menschen wissen, was sich in diesen Lagern
abspielt? Wieviele von diesen 60 Millionen bejahen diese Behandlung politischer
Gefangenen? Wieviele stehen dem gleichgültig gegenüber, weil sie unpolitisch
sind? Wieviele sympathisieren mit den Gefangenen und in wievielen rasen Schmerz
und Wut über derartige »Bekehrungsmethoden«. Man fragt sich weiter, was es
denn für Umstände sein mögen, die Söhne von Angestellten, Arbeitern und Bauern
dazu bringen, einen derartigen Sadismus zu entwickeln und ihn derart zu glorifi-
zieren. Eine Antwort auf diese Fragen gibt es derzeit noch nicht, sie sind von
entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der faschistischen Flut. Es steht
ausser Frage, dass dieser Sadismus bei den nationalsozialistischen Wachmann-
schaften nur zu einem geringen Teile krankhafter sadistischer Struktur entspringt.
Aus Bredels Schilderung geht hervor, dass die national-sozialistische Ideologie der
Härte und der Mitleidlosigkeit zur Durchsetzung eines von ihrem Standpunkt aus
gesehen »unerhörten Zieles« bei sehr vielen nationalsozialistischen Rebellen ein
Kampf gegen gerade entgegensetzte Regungen ist. Es sieht an manchen Stellen
so aus, als ob der subjektiv »volksgemeinschaftlich«, d. h. dumpf sozialistish
fühlende SA-Mann besinnungslos prügelt, wie um nur sein Gewissen zu betäuben.
Das ist an einigen Stellen fast direkt ausgesprochen. In der Art,, wie die
Wachmannshaften einen gefangenen adeligen Rittmeister behandeln, zeigt sich
deutlich ihre antifeudale und antikapitalistische rebellische Struktur. Das sind
riesenhafte Probleme.
So sehr wir über dieses grauenhafte Schicksal unserer Genossen toben mögen,
so sehr in uns der Wunsch nach Rache und Vergeltung sich entwickeln möge, es
steht ausser Frage, dass die revolutionäre Bewegung und jeder revolutionäre
Kämpfer Selbstüberwindung aufbringen muss, sich nicht von diesen berechtigten
Racheabsichten derart blenden zu lassen, dass er unfähig wird, die entscheidenden
79
Besprechungen
Probleme, die in diesem Verhalten der SA- und SS-Mannschaften liegen, wirklich
zu sehen und zu lösen. Man kann nicht ein Heer von einigen hunderttausend
Menschen aus dem Proletariat und dem Mittelstand, die sich in den Dienst der
äussersten Reaktion gestellt haben, dadurch bewältigen und gewinnen, dass man
Hunderttausende zu Sadisten stempelt, so sadistisch auch manche von ihnen sein
mögen. Wir müssen uns hier jene Genossen aus Saal H von AI des betreffenden Kon-
zentrationslagers zum Vorbild nehmen, die nach besonders grausamen Prügeleien
eine Abstimmung durchführen darüber, was sie mit ihren Peinigern anfangen würden,
wenn sie an deren Stelle wären, also einmal die Macht hätten. Nur einer von
37 revolutionären Arbeitern ist dafür. Gleiches mit Gleichem zu vergelten, alle
anderen sprechen sich gegen Quälereien und Sadismen aus. Diese Haltung von
Helden, die es zustande bringen, derart abzustimmen, nachdem sie kurz vorher
schwere Peitschenschläge auf ihrem Rücken gespürt hatten, ist kommunistische
Ideologie. Wir wissen aus dem Reiche, dass die breite Masse der Bevölkerung
von diesen Vorgängen entweder nichts weiss, oder wenn sie es hört, es nicht für
glaubhaft findet; d. h. die breite, politisch nicht geschulte Masse der deutschen
Bevölkerung unterliegt einem Regime, dessen wesentlichste Machtmittel und ideo-
logische Waffen sie nicht durchschaut.
Gerade an Hand des Buches von Willi Bredel lässt sich mehr an Fragen und
Aufgaben für die revolutionäre Bewegung herausarbeiten, als in Tausenden von
abgeleierten, wenig nützenden und keinem durchschnittlichen Menschen verständ-
lichen »Resolutionen« enthalten ist. Wir müssen endlich den Mut aufbringen, an
diesen Berg von Fragen massenpsychologischer und ideologischer Natur in auf-
richtig revolutionärer Weise heranzutreten. Es wird ohne ungeheuerliche Über-
windung des eigenen Hasses, sofern er derartigen Problemen gegenüber blind macht,
nicht gehen, doch die revolutionäre Bewegung wird noch ganz anderes und schwe-
reres zu leisten haben, als bloss die Freihaltung von seelischen Zuständen, die
der Überwindung des Faschismus nicht nützen, sondern nur schaden.
Role.
Willenbacher, Jörg.: .Deutsche Flüsterwitze", Verlagsanstalt Graphia, Prag
»In einem Eisenbahnabteil sitzen ein Jude und ein SA-Mann sich gegenüber.
Der Jude spricht ununterbrochen vor sich hin: »Hitler soll leben!« Wütend fährt
ihn der SA-Mann an: »So eine Unverschämtheit! Früher hast Du anders gebetet.
Da hiess es: Rathenau soll leben!« Darauf antwortete der Jude: »Na, und ...
lebt er?«
So sind sehr viele der Witze aus der Sammlung. Wenn auch der Witz nicht
immer die richtige Waffe im politischen Kampfe ist, weil er ernsthafte Aus-
einandersetzung durch humorvolles Hinwegsetzen verdrängt, diese Sammlung ist
ein Verdienst.
Role.
Zur Besprechung langten ein:
1. Zentralblatt für Psychotherapie, Band 7, 1. u. 2. Heft 1934, Verlag S. Hirzel.
2. Deutsche Seelenheilkunde, 1934 Verlag S. Hirzel, Leipzig.
3. Psychotherapeutische Praxis, Band 2, Heft 1 u. 2, 1935.
4. Sex and Revolution, von Alex Craig.
5. Elisabeth, Kaiserin von Österreich von Karl Tschuppik.
6. Das reifende Proletariermädchen von Margarete Rada.
7. Verse der Emigration, Gesammelt von Heinz Wielek.
8. Barnebegrsensning uden kunstige Midier, von Dr. J. H. Leunbach.
9. Die Gewerkschaften in der Demokratie und in der Diktatur von Leopold Franz.
10. Geschichte der deutschen Republik, von Arthur Rosenberg.
11. Psychologie des Sports, von Alfred Peters.
12. Die Entstehung elektrischer Ströme in lebenden Geweben, von R. Beutner.
13. Psychotherapie, ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, von Priv. Doz.
Dr. Heinrich Kogerer.
14. Der Kampf gegen die erste russische Revolution, von Alexander Gerassimoff.
80
Wilhelm Reich Zweife Auflage.
Massenpsychologie des Faschismus
Zur Sexualpolitik der polifischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik
In der .Neuen Weltbühne" schreibt Ludwig Marcuse u. a.
» Das Motiv zu dieser Untersuchung ist weder eine
sorglose Neugier, noch jene üble Rechtfertigungsmanie, die nach
jeder Niederlage immer beweist, dass kommen musste, was ge-
kommen ist. Reich sucht im Gegenteil das theoretische Funda-
ment für eine realistische, also wirksame Propaganda gegen
den Faschismus. Er ist, wohl mit vollem Recht, der Ansicht,
dass der Marxismus in seiner heutigen theoretischen Gestalt eine
solche Propaganda nicht fundieren kann. Was war denn bisher
das A und O seiner Attacke auf die gegnerischen Ideologien?
Politische Institutionen, religiöse Dogmen, moralische Begriffe
wurden als Einhüllung des wirtschaftlichen Interesses der
herrschenden Klasse »entlarvt«. Jetzt, da nun das Resultat
dieser jahrzehntelangen Entlarvungspädagogik sichtbar ge-
worden ist, hilft man sich zur Erklärung der Tatsache, dass
alle soziologische Aufklärung die Massen nicht gehindert hat,
zu Thyssen zu gehen, mit Vokabeln wie »Ablenkungsmanöver«,
»Folgen von Versailles«, »Hitler-Psychose«. Reich deutet auf Preis ■
die Ergebnislosigkeit solcher Wortprägungen hin
Massen sind nicht durch Theorien zu überzeugen, „ ''"«^'"
sondern nur durch den konkretesten Hinweis auf das Glück "«"Kr-O—
und Unglück, das jeder Einzelne am eignen Leibe und eignen sebunden
Leben erfährt.« °'"<- '^'- '—
Wilhelm Reich Neuerscheinung
Psychischer Kontakt und Vegetative
Strömung
Die Abhandlung entstand durch Erweiterung und Detail-
lierung eines Vortrages, der von Dr. Reich auf dem 13. Inter-
nationalen Psychoanalytischen Kongress im August 1934 in
Luzern gehalten wurde.
Sie setzt die Auseinandersetzung mit den schwierigen
charakteranalytisch-klinischen Tatbeständen und Fragen fort,
die in Reichs Buch »Charakteranalyse« grundsätzlich dargelegt
sind. Sie versucht vor allem zwei Tatsachengruppen zu
erfassen, die dort nicht behandelt wurden: die psychische
Kontaktlosigkeit samt den dazugehörigen Ersatzkontakt-Mecha-
nismen und die gegensätzliche Einheitlichkeit der vegetativen
und psychischen Äusserungen des Affektlebens.
Es ist wieder nur ein kleiner, freilich klinisch gut fundierter
Schritt aus dem Gebiet des bereits Bekannten und Gesicherten
in die dunkle Problematik der Leib-Seele-Beziehungen.
Sex-Pol-Verlag, Kopenhagen. Postbox 827 ^Jt;^"
Preis:
broschiarl
DSn.Kr.4.75
gebunden
Wir empfehlen der Beachtung unserer Leser:
W. REICH:
MASSENPSYCHOLOGIE DES FASCHISMUS
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Zur Sexualpolitik der pol. Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik
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W. REICH:
DER SEXUELLE KAMPF DER JUGEND
Eine Kampfschrift zur Politisierung der sexuellen Frage der Jugend
Preis: Kartoniert dänische Kr. 2.45, gebunden dänische Kr. 4.25
W. REICH:
EINBRUCH DER SEXUALMORAL
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suchung über die Funktion der Sexualmoral im gesellschaftlichen Prozess
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CHARAKTERANALYSE / Ihre Technik und Grundlagen
Eine bedeutende Zusammenfassung klinischer Erfahrungen mit grundle-
genden techn.-therapeutischen Ausführungen z. Thema: Charakterologie
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DIALEKTISCHER MATERIALISMUS UND
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in der Geschichtsforschung und des dialektischen Materialismus auf
psychologischem Gebiet. 60 Seiten. Preis: dän. Kr. 2.70
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Verantwortl. f. d. Redaktion t Dr. phil. Martin Eileiiange, Kopenhagen
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